Während der Pandemie geht es wirklich klasse voran mit dem Lesen, es ist ja eines der Dinge, die immer gehen. Denn es ist jetzt anscheinend durchaus angeraten, wieder über eine kleine Privat-Quarantäne nachzudenken. Die Corona-Zahlen steigen, ein Ende ist nicht in Sicht, und Geimpft-Sein bedeutet leider mitnichten sicher sein!
Das andere wichtige Thema ist der Klimawandel. Ich verbringe derzeit viel Zeit damit, die On-Demand-Streams vom Klimagipfel COP26 in Glasgow zu verfolgen, und ehrlich gesagt, mein Eindruck ist, dass sich inzwischen nicht nur bei den Inselstaaten ein gewisses Gefühl der Dringlichkeit bildet. Ob das ausreicht, unser Emissionsverhalten zu ändern, wo doch allseits immer wieder geradezu verzweifelt verkündet wird, mit Lebensstil hätten diese Emissionen nichts zu tun, man brauchte nur ein bisschen andere Technik, dann würde das schon klappen, das wird sich zeigen müssen. Es gab ja bisher fast auf jedem COP viele Versprechen, die regelmäßig nur im Ansatz eingehalten wurden.
Das Ganze wird sicherlich Spitz auf Knopf ausgehen, und ich hoffe sehr, dass ich es noch erleben darf, dass wir wirklich runterkommen vom Emissionsniveau. Wenn es so weitergeht wie jetzt, sind wir 2030 bei über zehn Prozent mehr Kohlendioxid als heute, und dann auf Dauer betrachtet: Gute Nacht, Nordseeinseln, Hamburg, Bremen, Kiel, Amsterdam und noch so einiges.
Mindestens drei der in diesem Monat besprochenen Bücher haben direkt oder indirekt mit Corona zu tun, und in keinem wird die Seuche gar nicht erwähnt. Da sieht man mal. Allerdings lässt sich Corona auch trefflich als Aufhänger für alles Mögliche benutzen. Zum Beispiel als Aufhänger für Diskussionen über längst bekannte Themen, denen dann ein neuer Aspekt hinzugefügt wird.
Das trifft auf die letzten beiden hier besprochenen Bändchen der Reihe rausgeblickt zu. Details zum Hintergrund siehe die Ausgaben Februar und März des andere-wirtschaft-Blog. Diesmal wird der Ökonomie-Spezialist Joseph Stieglitz, einer der ganz Großen, wenn es um Nachdenken über alternative Wirtschaftsmodelle geht, befragt. Stieglitz redet wie immer über eine gerechte Weltwirtschaft, und das ist auch bitter nötig. Gestern wurde beispielsweise verkündet, dass die reichsten ein Prozent der Bevölkerung 16 Prozent zum Kohlendioxidausstoß beitragen. Friede den Hütten, Krieg den Privatjets, Luxusyachten und anderen solchen Dingen, möchte man da in Anlehnung an einen bekannten Spruch ausrufen!
Stieglitz erwähnt im Interview einige seiner bekannten Ideen: alternative Indikatoren neben dem BPI, er wehrt sich gegen den „Fundamentalismus des freien Marktes“, erwartet Veränderungen bei der Globalisierung und redet über die Notwendigkeit, gerechtere Steuersysteme zu entwickeln und darüber, dass sich der Glauben der Menschen an eine rein liberale Marktwirtschaft inzwischen erschöpft hat. Wer sich mit dem Gedankengebäude von Stieglitz in Kurzform befassen möchte, ist mit dem Band bestens bedient. Die Corona-Bezüge sind vorhanden, man hätte dieses Interview aber genauso auch ohne sie veröffentlichen können.
Ähnliches gilt auch für einen schon wieder aus der Aktualität gerutschten Nachhaltigkeits-Star des Frühjahrs 2021, Maja Göpel. Auch hier fügte Corona den relativ gut bekannten Gedanken der Autorin zur Nachhaltigkeit nur einige Corona-Aspekte hinzu. Es geht im Interview um falsche Anreize im Wettbewerb, umweltschädliche Subventionen, Gemeinwohlökonomie, die Gefährdung der Demokratie durch die Tribalisierung der Gesellschaft und die Notwendigkeit eines neuen, mit den Bedürfnissen künftiger Generationen und den Notwendigkeiten des Klimaschutzes kompatiblen Gesellschaftsvertrag. Alles sehr gute Gedanken, doch der Weg zur Umsetzung scheint manchmal geradezu unüberwindlich. Auch hier gilt: Wer Göpels wichtigste Gedanken kennenlernen möchte, ohne umfangreiche Bücher zu lesen, ist mit diesem Band aus der Reihe „Nachgehakt“ gut bedient.
Corona und die damit verbundenen Verblödungskampagnen von Querdenkern, einigen Alternativmedizinern etc. dürften auch der Anlass gewesen sein, der Mai Thi Nguyen-Kim zum Schreiben bewogen hat. Die junge Frau brillierte in der ersten Phase der Pandemie durch ein unschlagbar gutes Video, in dem sie die Natur exponentiell steigender Fallzahlen und überhaupt der Pandemie-Ausbreitung wissenschaftlich korrekt, aber gleichzeitig unterhaltsam erklärte. Ihre tolle Arbeit wurde inzwischen mit einer eigenen Wissenschaftssendung im öffentlich-rechtlichen Fernsehen belohnt.
Was wissen wir, und was ist Fake? Oder unklar?
Ihr Buch „Die kleinste gemeinsame Wirklichkeit“ beleuchtet einige chronisch umstrittene Fragen und benutzt dazu streng wissenschaftliche Kriterien. Das führt nicht zu den vom Stammtisch bekannten klaren Urteilen in die eine oder andere Richtung. Vielmehr begreift man, dass es vieles gibt, was wir leider gar nicht genau wissen, obwohl immer wieder Leute das behaupten, und anderes, was wir sehr genau wissen, auch wenn viele so tun, als handele es sich um vollkommen unbewiesene Thesen.
Die pfiffige Wissenschaftsjournalistin befasst sich in jeweils einem Kapitel ihres Buches mit notorisch umstrittenen Themen. Jedes von ihnen hat das Potential, ganze Freundeskreise auseinanderzutreiben: Drogenlegalisierung, Videospiele und Gewalt, Gender Pay Gap, Pharma versus alternative Medizin, Impfungen, Erblichkeit von Intelligenz, unterschiedliches Denken von Frauen und Männern, Tierversuche.
Jeweils wird geschaut, welche Studien existieren, was diese Studien aussagen und wie statistisch relevant diese Studien sind. Fein säuberlich werden Fakten und daraus abgeleitete Meinungen auseinanderklamüsert, so dass am Ende klar wird, worüber man sich überhaupt streiten kann und was schlicht hingenommen werden muss, weil es nun mal nach den bisherigen Erkenntnissen so ist. Immer vorbehaltlich vollkommen neuer Erkenntnisse, die nach guter wissenschaftlicher Tradition auch den heutigen Stand des Wissens über den Haufen werfen können, so sich das Neue denn oft genug nachvollziehbar reproduzieren lässt.
Ganz nebenbei vermittelt die Autorin Grundwissen über Statistik und Biomedizin, was sich als sehr hilfreich entpuppen könnte, wenn wieder einmal jemand mit einer Studie sowie den dazugehörigen Fachbegriffen wedelt. Diese statistischen Exkurse sind in Kästen vom übrigen Text abgetrennt, so dass man sie ohne große Anstrengung finden und konsultieren kann, um etwa nachzulesen, was eine Effektgröße oder die Standardabweichung sind, wie Medikamentenstudien ablaufen und das Genom aufgebaut ist. Uneingeschränkt empfehlenswert. Die Autorin hat übrigens in ihrem noch ziemlich jungen Alter für ihren wissenschaftsjournalistischen Einsatz gegen Unsinn, Fake und Impfgegner bereits das Bundesverdienstkreuz bekommen und verdient es auch. Schon allein, weil sie die teils schwierigen Themen so darstellen kann, dass man sich ganz nebenbei auch noch amüsiert bei der Lektüre.
Essen nur noch aus der Retorte?
Die einen denken darüber nach, die Welt durch ökologische Landwirtschaft zu retten, die anderen wollen sie gleich ganz vom Acker in die Retorte oder das Gewächshaus verlegen, weil man dann die heute bewirtschafteten Flächen zumindest größtenteils der Natur zurückgeben könnte. In dem Buch „Vom Ende der Landwirtschaft“ wird also das übliche Denken grüner Kreise hinsichtlich der Produktion unserer Nahrungsmittel einmal vollkommen auf den Kopf gestellt. Man mag die Ansichten des Autors teilen oder nicht (auch in mir als Landkind und Mitbetreiberin einer Kleingarten-Parzelle sträubt sich da so einiges), sie sind auf jeden Fall interessant und eine Auseinandersetzung mit den Ideen lohnt sich.
Der Autor, Oliver Stengel, befasst sich als Professor mit Nachhaltiger Entwicklung, und als solcher ist ihm die Landwirtschaft auf dem Feld mit ihrem ungeheuren Flächen- und Wasserbedarf ein Dorn im Auge. Stengel meint (und beruft sich auf bekannte Ökologen und Biologen), dass das Artensterben und damit wohl auch ein Niedergang der Menschheit kaum aufzuhalten sind, wenn diese nicht die landwirtschaftlichen Flächen weitestgehend für die Verwilderung freigibt.
Eine extensive Bewirtschaftung mittels Ökolandbau sei keine Option, da die Menschheit dafür längst zu groß geworden sei – die zu erwartenden Minderernten ließen sich nicht durch die Nutzung neuer Flächen auffangen, ohne die Ökosphäre noch weiter zu ruinieren.
Da die Menschheit anscheinend nun einmal nicht auf Fleisch und andere tierische Nahrung verzichten wolle und auch kein Anzeichen von Schrumpfung zeigt, rät Stengel dazu, schleunigst die Entwicklung und Vermarktung von tierlos wachsendem Fleisch aus der Retorte (bald verzehrreif), ebensolcher Milch, Insektenfarmen, Aquapoenie (Kombi-Züchtung von Fischen und Pflanzen in geschlossenen Systemen, bei denen die Ausscheidungen der Fische die Pflanzen düngen), bodenlosem Farming in Nährlösung und so weiter voranzutreiben. Solche Techniken sollen die bestehende Landwirtschaft schnellstmöglich ablösen, ehe der Planet austrocknet oder nur noch von Menschen und seinen Haustieren bevölkert wird (eine schreckliche Vorstellung, aber leider gar nicht so abwegig).
Allein solche Methoden böten die nötige Flächensparsamkeit und ausreichend hohe Erträge, um die explodierenden Stadtbevölkerungen zu ernähren, ohne Grundwasserleiter und Böden weiter zu ruinieren oder viele Menschen dem Hungertod auszusetzen. Stängel hält es für möglich, sogar Kartoffelpflanzen in flüssigem Substrat zu züchten, sobald man herausgefunden hat, welcher chemische Schalter die Pflanze zur Ausbildung ihrer Knollen motiviert. Das sei, so der Wissenschaftler, nur noch wenige Jahre entfernt.
Klingt utopisch? Naja. Schließlich hat wohl auch niemand ernsthaft geglaubt, dass man in einem Jahr einen Impfstoff entwickeln oder in seiner Tasche so viel Rechenleistung herumtragen kann, wie noch vor wenigen Jahrzehnten nicht mal in einem ganzen Raum zu realisieren gewesen wäre.
Zeit ist Zeit, und Geld ist Geld
Das letzte Buch, das ich hier erwähnen möchte, befasst sich mit dem Thema Zeit und damit, warum die „Zeit-ist-Geld“-Logik der Natur und den Menschen den Hahn abdreht. Nämlich, um es kurz zu sagen, weil in der „Zeit-ist-Geld-Ordnung“ die natürlichen Rhythmen keinen Platz haben. Weder die von Menschen noch die von Tieren. Und dies hat wiederum negative Auswirkungen auf Leben, Psyche und Ökosphäre. Das sind nun keine neuen Gedanken, man denke nur an den Pionier der wissenschaftlichen Entschleunigungsdiskussion in Deutschland, Hartmut Rosa, der sich schon viele Jahre mit diesem Thema befasst.
Das Buch ist aber trotzdem interessant. Denn erstens nimmt es aktuelle Themen wie die Forderung nach Multitasking als neue Stufe der Beschleunigung des wirtschaftlichen Handelns auf und bespricht, was Home Offices und Smartphones damit zu tun haben. Und zweitens widmet sich das hintere Drittel des Buches der Frage, was es bedeuten würde, eine nachhaltige Zeitkultur zu entwickeln und was die einzelnen Menschen dazu beitragen könnten.
Das geschieht nicht in Form weitschweifiger Erörterungen mit erhobenem Zeigefinger. Vielmehr sind in den Text Kästen mit Fragen eingestreut, die die Leserschaft zum Nachdenken über das eigene Verhalten anregen und vielleicht dazu ermuntern sollen, an der einen oder anderen Stelle mal etwas anderes zu versuchen, um zu sehen, wie es sich aufs eigene Leben auswirkt. Da geht es darum, was man mit freien Momenten anfängt, wie man aus aufoktroyierten Zeitkorsetts ausbricht, um die Beobachtung der Zeitstrukturen des eigenen Alltags und Ähnliches.
Beim Individuum bleibt dieses Verfahren nicht stehen, sondern schreitet fort zu Arbeitswelt und Politik, denn wenn die Regeln etwas anderes erzwingen, ist es schwer, sich gesündere Zeitstrukturen zuzulegen. In diesem Kapitel, besonders in dem Teil, der sich mit dem Individuum befasst, finden sich viele Anregungen, die tatsächlich dazu führen können, eigene Gewohnheiten in Frage zu stellen. Und sei es nur, dass das Smartphone beim Mittagessen nicht mehr auf dem Tisch liegt.
Thomas Hartmann, Jochen Dahm, Christian Krell. Interview-Reihe rausgeblickt: Joseph Stieglitz. Pandemie und Markt. Ein Gespräch über eine nachhaltigere Welt. Dietz-Verlag, Bonn, 2021. Gebunden, Din-A-6-Format, 65 Seiten. ISBN 978-3-8012-0602-4, 10 Euro.
Thomas Hartmann, Jochen Dahm, Christian Krell. Interview-Reihe rausgeblickt: Maja Göpel: Pandemie und Klima. Ein Gespräch über eine gerechtere Weltwirtschaft. Dietz-Verlag, Bonn, 2021. Gebunden, Din-A-6-Format, 84 Seiten. ISBN 978-3-8012-0607-9, 10 Euro.
Mai Thi Nguxen-Kim: Die Kleinste gemeinsame Wirklichkeit. Wahr, falsch, plausibel? Die größten Streitfragen wissenschaftlich geprüft. Droemer, München, 2021. Gebunden mit zahlreichen Abbildungen und Textkästen, 367 Seiten, 20 Euro. ISBN 978-3-426-27822-2.
Oliver Stengel: Vom Ende der Landwirtschaft. Wie wir die Menschheit ernähren und die Wildnis zurückkehren lassen. Plädoyer für eine Postlandwirtschaftliche Revolution. Oekom-Verlag, München, 2021. Broschiert, 239 Seiten, 20 Euro. ISBN 9-783962-382070.
Harald Lesch, Karlheinz A. Geißler, Jonas Geißler: Alles eine Frage der Zeit. Warum die „Zeit-ist-Geld“-Logik Mensch und Natur teuer zu stehen kommt. Oekom-Verlag München 2021. Broschiert, 271 Seiten, 20 Euro. ISBN 9-783962 382483.