Diese Frage bewegt die Welt keinesfalls erst seit dem Entstehen des Queer-Movement. Vielmehr stellten autonome Feministinnen sie bereits in den 70er und 80er Jahren, und zwar von einem geisteswissenschaftlichen Standpunkt aus sowohl an die Geistes- als auch an die Naturwissenschaften und die Kunst samt ihrer Rezeption. Inzwischen werden diese Ansätze historisiert und in Verbindung gesetzt zu neuen, interdisziplinären und intersektoralen Ansätzen.

Ein entsprechendes Forschungsprojekt „Geschlechterwissen in und zwischen den Disziplinen“ unter der Führung des Zentrum für interdisziplinäre Frauen- und Geschlechterforschung der Universität Oldenburg lief zwischen 2014 und 2018. Aus den Ergebnissen eines Teilprojekts, das die Technische Universität Braunschweig verantwortete, entstand der hier besprochene Band.

Was kritisierten Feministinnen, die Ökologie und die Technikkritik an den Verfahrensweisen und dem Personal der Wissenschaft der 70er und 80er Jahre? Wie arbeiteten sie? Was davon ist geblieben oder wurde in neuere Ansätze übernommen? Wer das wissen möchte, ist mit dem zum Projekt 2020 im transcript-Verlag erschienenen Buch gut bedient.

Es gliedert sich in drei große Abschnitte: Grundlagen der Kritik an den disziplinären und wissenschaftlichen Strukturen im Allgemeinen, Anwendung dieser Ansätze auf unterschiedliche Bereiche und schließlich die Darstellung aktuelle Ansätze. Sie führen die alten teils fort, gehen aber auch andere Wege.

Der erste große Abschnitt beschreibt dabei die Basis, von der aus die heranwachsende Wissenschaftlerinnengeneration die bestehenden Strukturen, Fächergrenzen etc. in Frage stellten. Drei Kapitel befassen sich mit interdisziplinärem Arbeiten und mit den grundlegenden Inhalten feministischer, ökologischer und technologiekritischer Ansätze. Ein drittes Kapitel thematisiert die Trennung zwischen Reproduktions- und intellektueller Arbeit – ein Thema, das Gesellschaft und selbstverständlich auch den neuen Feminismus bis heute beschäftigt.

Informatik

Als Beispielfelder zur Anwendung des zunächst dargestellten denkerischen Fundaments haben die Herausgeberinnen Informatik, naturwissenschaftliche Forschung und Kunstgeschichte beziehungsweise -wissenschaft ausgewählt. Im Abschnitt Informatik geht es um die Arbeitsgruppe „Frauen und Informatik“ der Gesellschaft für Informatik. Diese Gruppe versuchte und versucht bis heute, frauenspzifische Themen, Sichten und Ansätze in der Informatik zu etablieren sowie ganz pragmatisch Informatikerinnen zusammenzubringen, ihre Interessen zu eruieren und zu artikuieren. Als Beispiel eines Ansatzes, der aus diesem Umfeld hervorging, wird die partizipative Softwareentwicklung erwähnt, das maßgeblich von Christiane Floyd erdacht wurde. Sie kritisierte eine zu wenig an Kommunikation und humanwissenschaftlichen Erkenntnissen ausgerichtete Methoden und Herangehensweisen. Vielleicht lässt sich sagen, dass die heutige agile Softwareentwicklung mit ihrer engen Anwenderkommunikation, Devops sowie Ansätze, die Entwicklung der KI mit ethischen Begrenzungen auszurüsten, durch ihr Denken beeinflusst wurden.

Naturwissenschaften

Im Abschnitt Naturwissenschaften berichtet der erste Abschnitt über die FiNUT (Frauen in Naturwissenschaft und Technik), die sich in den 70ern zusammentaten und in den 80ern und 90ern einige weithin beachtete Kongresse durchführten. FiNUT setzte sich mit den männlich dominierten Strukturen besonders in der Naturwissenschaft auseinander, versuchte, Naturwissenschaftlerinnen bundesweit, aber auch international zu vernetzen und grub in der Geschichte nach vergessenen Naturwissenschaftlerinnen.

Ein Beispiel für eine feministische Naturwissenschaftlerin, die noch dazu offen lesbisch lebte, ist die 2023 verstorbene Jenny Kien. Ihr ist in dem Buch ein ganzes Kapitel gewidmet. Die aus Australien stammende jüdische Neurobiologin und Zoologin leitete prestigeträchtige zoologische Forschungsprojekte, erhielt mehrere hoch dotierte Wissenschaftsstipendien und entwickelte neuartige Forschungsansätze, die darauf zielten, eher den Gesamtorganismus im Auge zu haben, als ihn bis ins Kleinste zu zergliedern und damit zu zerstören.

Gleichzeitig arbeitete Kien in feministischen Zusammenhängen an der Vernetzung von Wissenschaftlerinnen, um deren Chancen im Forschungsbetrieb zu verbessern. Zudem holte sie Vorläuferinnen aus dem Vergessen. So hielt sie in den 80ern zusammen mit David Cassidy, einem Wissenschaftshistoriker, eine vielbeachtete Vorlesungsreihe (eine von nur zwei in ganz Deutschland) zu vergessenen Naturwissenschaftlerinnen und ihrer Arbeit. Dieses Thema wurde auch öffentlich breit rezipiert und führte zu einer Reihe von Veröffentlichungen in der Tages- und der Frauenpresse.

Trotz hervorragender wissenschaftlicher Arbeit gelang es Kien nicht, in Deutschland eine Professur zu ergattern, weshalb sie 1994 Deutschland verließ und 1996 gänzlich nach Israel umsiedelte. Dort lehrte sie Themen aus Zoologie und Ökologie an zwei Universitäten und veröffentlichte in den 2000er-Jahren zwei Standardwerke zur feministischen Kritik an der jüdischen Religion.

Kunst

Drei Aufsätze beschäftigen sich mit Themen rund um Kunstgeschichte und -wissenschaften. Thematisiert werden zum einen die Kunsthistorikerinnen-Kongresse der späten 80er Jahre und ihre Sicht auf den Kunstbetrieb. Ein zweiter Aufsatz beschreibt, wie die damals edntwickelten Ansätze rezipiert wurden oder eben nicht. Und schließlich liefert der dritte Text Daten zur Geschlechteraufteilung an den Kunstakademien heute.

Wie geht es weiter?

Im dritten großen Block des Buchs geht es darum, wie die im Buch beschriebenen Ansätze heute weitergeführt werden oder ob sich neue Ansätze gebildet haben. Das Buch schließt mit einem Ausblick, der Geschlechterwissen in der Wissenschaft als Methode einer „dissidenten Partizipation“ beschreibt. Das bedeutet die Möglichkeit, ein Teil der Wissenschaft zu bleiben, ohne deswegen zu allen ihren Praxen und Organisationsstrukturen ja zu sagen.

Fazit

Wer verstehen möchte, welchen Beitrag der (autonome) Feminismus zur heutigen Wissenschafts- und Technikkritik geleistet hat und wie diese Beiträge die derzeitigen wissenschaftskritischen Ansätze beeinflussen, ist mit diesem Buch gut bedient. Es entreißt wichtige Denkrichtungen und einige ihrer Protagonistinnen dem langsamen Vergessen.

Allerdings sind die hier versammelten Texte durchweg nicht im unterhaltsamen, sondern im wissenschaftlichen Stil geschrieben. Wer das nicht gewohnt ist, sollte sich auf etwas Mühe beim Lesen gefasst machen. Belohnt wird man dafür durch umfangreiche Literaturverzeichnisse hinter jedem Aufsatz, die es erleichtern, interessierende Themen zu vertiefen. Die drei Herausgeberinnen erweisen damit nicht nur der genderbezogenen Kritik an den Wissenschaften, sondern auch ihren Vorläuferinnen einen großen Dienst und sorgen dafür, dass die Beiträge von Frauen nicht wieder einmal vergessen werden.

Barbara Paul, Chorinna Barth, Silke Wenk (Hrsg.): Geschlechterwissen in und zwischen den Disziplinen. Perspektiven der Kritik an akademischer Wissensproduktion. Reihe Studien interdisziplinärer Geschlechterforschung, Band 10. transcript-Verlag, Bilelefeld, 2020. Broschiert, 288 Seiten. ISBN 978-3-8376-5237-6, Print: 27,00 Euro, pdf: 23,99.

Leave a comment

(required)

(required)