Einführung in die Holakratie

Wer heute Unternehmen führen muss, braucht ein System, das mit den ständigen Veränderungen in der Umwelt gut fertig wird. Ein Versuch in diese Richtung ist das Konzept der Holakratie, das etwa 2015 in dieser Form entstand.

Alle paar Jahre wird im Bereich Management-Strategien etwas angeblich vollkommen Neues erfunden. Sieht man näher hin, ist es meistens nicht ganz neu, sondern irgendwie schon mal dagewesen. So ist es auch bei der Holakratie (Holacracy). Erfunden hat sie Brian J. Robertson, ehemals Softwareentwickler, nun Holakratie-Promotor mit eigener Beratungsfirma (HolacracyOne). Die Grundlagen von Inhalt und Umsetzung beschreibt er in dem Buch „Holacracy -Ein revolutionäres Management-System für eine volatile Welt“, bereits 2015 erschienen beim Wirtschaftsverlag Vahlen. Dabei geht es in dem gut 200 Seiten schmalen Band zunächst ums Konzept, dann um seine wesentlichen Bestandteile und um eine Beschreibung der ersten Einführungsschritte.

Die besondere Stärke von Holakratie soll sein, dass das Unternehmen höchst sensibel auf alle internen und externen Veränderungen reagieren und sich flexibel und schnell anpassen kann. Dies sei in unsicheren, sehr veränderungsträchtigen Zeiten wie unseren besonders wichtig.

Das Verfahren geht auf den Ansatz der Soziokratie zurück, eine Managementmethodik, die vor allem für das gleichberechtigte und effektive Management von Non-Profit-Organisationen zugeschnitten ist. Die Begrifflichkeit Holakratie stützt sich auf den konservativen Intellektuellen Arthur Köstler. Ein Holon ist nach ihm ein Ganzes als Teil eines größeren Ganzen, wobei die im übergeordneten ganzen autonom zusammenwirkenden Holone zusammen eine Holarchie bilden.  

Verfassung mit Versionsnummer

Holakratie im Unternehmen stützt sich dabei auf eine sogenannte „Verfassung“. Ein Begriff, den man mit Stabilität und Unwandelbarkeit assoziiert. Doch Fehlanzeige: Die Holakratie-Verfassung findet sich nicht im Buch, sondern nur auf einer Website, und dort mittlerweile in Version 4.0. Die dazu erhältliche Druckversion, Kostenpunkt 14,95 Dollar, befindet sich bereits in Version 4.1.

Das wirft natürlich Fragen auf: Wie oft wird die Verfassung versioniert, wie stark unterscheiden sich die Versionen, und sollen Unternehmen ihre „Revolution“ der jeweils neuesten Version anpassen? Oder aber sollen sie sich für eine Version entscheiden und am späteren Fortschritt der Verfassung nicht mehr teilnehmen? Das tun schließlich auch viele Nutzer eines IT-Betriebssystems – diese Analogie stammt nicht von der Autorin dieser Rezension, sondern von Robertson, der ja aus der IT stammt. Sein zweites Steckenpferd scheint Biologie zu sein, denn auch Analogien aus diesem Sektor findet man gehäuft. Etwa greift Robertson ständig auf den Begriff Evolution zurück. Er übersieht dabei, dass dieses Phänomen in seiner ganzen Tiefe in der Biologie noch gar nicht richtig verstanden ist und dass man es deshalb vielleicht nicht für die Weiterentwicklung einer internen Unternehmensstruktur oder -managementpraxis verwenden sollte, auch wenn dies ständig geschieht.

Die Evolution der Verfassung etwa verwirrt, weil Robertson immer wieder darauf hinweist, wie wichtig das Einhalten dieser Verfassung möglichst in ihrer vollständigen Form ist, um von der Holakratie zu profitieren.

Jeder ist verantwortlich

Was ist das wichtigste Prinzip der Holakratie? Ganz einfach: Sie soll die Gestaltungsmacht der übergeordneten Managementprozesse von den Schultern des Management herunter- und einem anonymen, dem Sinn des Unternehmens dienenden „Prozess“ aufladen. Die Struktur des Prozesses soll dazu führen, dass alle Mitarbeiter als Erfüller der von ihnen übernommenen Rollen Eigenmacht und Autonomie zur Erfüllung ihrer jeweiligen Aufgaben erhalten sollen, in die das obere Management (das es in diesem Sinne nicht mehr wirklich gibt) operativ nicht eingreifen darf. Allen Betriebsangehörigen soll das Konzept helfen, persönliche Beziehungen von den Rollen, in denen sie für das Unternehmen tätig sind, zu trennen, um in dessen übergeordnetem Sinn tätig zu werden. Den Unternehmenssinn, ebenfalls ein zentraler Begriff,  definiert Robertson als die Antwort auf die Frage: „Was will die Organisation in der Welt sein, und was will die Welt von der Organisation?“

Strukturell ersetzt Holakratie die verbreitete Aufteilung von Firmen in Bereiche und Abteilungen und eine interne Führungshierarchie ersetzt Robertson durch sogenannte Kreise. Sie können sich untereinander überschneiden oder andere Kreise enthalten. Zu den Kreisen gehören diverse Rollenträger, die jeweils bestimmte Aufgaben („Verantwortlichkeiten“) für den Kreis zu erledigen und zu verantworten haben. Außerdem werden für jeden Kreis sogenannte Links und ein Schriftführer gebraucht. Links stellen sozusagen als Boten die Kommunikation zu anderen Kreisen her. Die Effizienz von Besprechungen und der gesamten Zusammenarbeit soll durch Holakratie gewaltig ansteigen. Allerdings klingt es, als würde zunächst vor allem die Menge an Besprechungen heftig anwachsen, denn jeder Kreis hat davon zwei Sorten: sogenannte Governance- und operative Meetings, deren strikt regelmäßige Durchführung laut Robertson notwendig ist, was jeweils nach rigiden Regeln erfolgt, die ebenfalls von Robertson erdacht und in der Verfassung festgehalten wurden. Robertson bekennt, dass die Einführung des Verfahrens unter anderem deswegen oft mitnichten reibungsfrei verläuft.

Probleme schließlich heißen in der Holakratie-Welt „Spannungen“. Sie sollen von jedem einzelnen Mitarbeiter „gespürt“ und in den Managementprozess eingebracht werden können. Das führt dann sehr schnell zu neuen Verantwortlichkeiten oder gar eine Änderung der Governance. Dadurch sollen potentiell schädliche oder reaktionsbedürftige Prozesse aus der Außen- und Innenwelt des Unternehmens rechtzeitig erkannt und behoben werden.

Totaler Anspruch

Es würde zu weit führen, hier jedes Detail des Holakratie-Konzepts aufzuführen, geht es doch um die Bewertung des Buches, nicht des Konzepts. Im Buch würde man sich vor allem mehr konkrete Umsetzungsbeispiele aus Unternehmen wünschen. Doch davon gibt es vor allem zwei: HolacracyOne, Robertsons eigenes Unternehmen, zum anderen den Online-Schuhhändler Zappos, zweifellos ein erfolgreiches und innovatives Unternehmen. Doch wie Holakratie bei einem klassischen Maschinenbauer, bei einer Taxifirma oder einem Energieunternehmen funktionieren soll, wie in einem großen Handwerksbetrieb oder bei einem öffentlichen Dienstleister, bleibt der Phantasie der Leserschaft überlassen. Ganz zu schweigen von regulierten Märkten, wo die Verantwortung von Führungspersonal schlicht nicht weitergegeben werden darf. Auch Checklisten für die Umsetzung des Konzeptes gibt es nicht. Zur Umsetzung wird dringend auf die Dienste entsprechend geschulter Berater verwiesen.

Immerhin gibt Robertson zu, dass das Konzept nicht zu jeder Firma passe – als Gründe dafür nennt er mangelnde Loslass-Bereitschaft von Führungskreis oder mittlerem Management sowie zu frühes Aufhören mit der Umsetzung.

Ein Trost für Skeptiker: Etwas widerwillig schreibt Robertson, man könne Holakratie auch in Teilbereichen des Unternehmens oder teilweise umsetzen. Doch gingen dann viele positive  Effekte verloren. Immerhin ließen sich mit Elementen von Holakratie auch bei unvollständiger Umsetzung betriebliche Rollen klarer definieren und Besprechungen effektiver gestalten, schreibt Robertson. Das wäre für einen Preis von 24,90 Euro ja bereits ein beträchtlicher Nutzen.

Entgegen dem im Buch mehrfach vertretenen Anspruch, letztlich mache vor allem das Holakratie-Ganze Sinn, glaubt die Autorin eher der auf der Rückseite abgedruckten Einschätzung von getabstract: „Das Buch liefert wertvolle Anregungen für eine moderne Unternehmensorganisation sowie praktische Tipps, etwa um Meetings effizient zu einem guten Ergebnis zu bringen.“ Ein alleinseligmachendes oder gar revolutionäres Konzept zur Aufhebung aller „Spannungen“ in fast jedem Unternehmen, das über loslassbereite Mitarbeiter und Ausdauer verfügt, liefert es dagegen sehr wahrscheinlich nicht.

Bibliographie: Brian J. Robertson: Holacracy. Ein revolutionäres Management-System für eine volatile Welt. Vahlen, München, 2015. 205 Seiten, einige s/w-Grafiken, Stichwortverzeichnis. ISBN 973-3-8006-5087-3, 24,90 Euro.

Temperaturen und CO2 steigen munter weiter

Monatlich fasst der Copernicus Climate Change Service (C3S) des Copernicus-Projekts der EU die weltweit aus aktuellen Boden-Wetterstationen gewonnenen sowie zusätzlich gemittelte Langfristdaten zu den Temperaturen in bestimmten sensiblen Regionen zu einem globalen, nach den neuesten Standards erstellten Wetter- und Klimamodell zusammen. Es bildet die weltweite Temperaturentwicklung ab. Anschließend visualisiert C3S die Erkenntnisse in anschaulichen Grafiken. Die Ergebnisse und Grafiken stehen im Internet und werden als per Mail abonnierbares Klimabulletin publiziert. Aus Satellitendaten werden zudem Daten zur weltweiten CO2-Emission gewonnen und ebenfalls veranschaulicht.

Fazit: Die CO2-Werte steigen weiter. Und – wen wundert es – natürlich auch die Temperaturen. Hier ging es im Dezember 2018 weltweit betrachtet, munter weiter aufwärts, auch wenn es in einigen wenigen Regionen etwas kälter war als im Durchschnitt. Teilweise wurden gerade in polnahen Regionen Werte sechs Grad über dem langjährigen Durchschnitt gemessen.

Eigentlich müssten im Angesicht dieser Daten jedem Politiker der Schweiß ausbrechen und es sollte schleunigst gehandelt werden….

 

Von Bienen und Menschen

Heute mal was über Insekten. Es gibt nämlich kaum noch welche. In unserem Kleingarten hatten wir früher mindestens fünf Schmetterlingsarten, Libellen und eine Unmenge anderes Zeugs. Nun haben wir nur noch Fliegen, Wespen, Ameisen und Mücken sowie anderes Zeugs, das uns Löcher in die Haut beißt. Mit den Insekten sind auch viele Vögel schlicht verschwunden. Das hat mich bewogen, das Buch „Das große Insektensterben“ zu lesen. Ich wollte gern wissen, woran es liegt und ob ich selbst was tun kann.

Wie viele inzwischen nach wochenlanger Coverage in den Medien wissen, sind Insekten die Tierchen, die unter anderem dafür sorgen, dass an den Bäumen was wächst, indem sie den Samen von Pflanzen verbreiten beziehungsweise die Blüten bestäuben. Dabei machen den Löwenanteil der Arbeit wilde Spezies, nicht unsere Honigbiene, weshalb die vielen Bienenstöcke, die sich neuerdings in den Städten ausbreiten, zwar schön, aber kein Ersatz für die Insektenfauna draußen sind.

In China, wo es dank der großartigen, vorausschauenden Politik der damaligen Regierung schon seit einiger Zeit keine oder kaum noch Bienen aller Art gibt, übernehmen diese schöne Aufgabe Menschen. Das hat den Nachteil, dass diese Menschen eigentlich viel zu groß sind für die Blüten und zu klein sind für die Bäume, an denen die Insekten ja einfach hochfliegen, wenn sie Blüten weit oben erreichen wollen. Mit anderen Worten: Menschen sind, im Gegensatz zu ihren Insektiziden, leider gar nicht effizient. Zumindest nicht, wenn es darum geht, Blüten zu bestäuben.

Dass die Insekten sterben, liegt laut diesem Buch (und das stimmt überein mit allem anderen, was ich mittlerweile dazu gelesen habe), an unseren wunderbaren Pflanzenschutzmitteln wie Glyphosat und Nicotinamiden und auch noch an einer Reihe von anderen Gründen, zum Beispiel dem Wahn, eine keimfreie Golfwiese besitzen zu müssen, auf dem Acker jedwedes „Unkraut“ und jede Blühpflanze restlos auszurotten, alles, was irgendwie unordentlich aussieht, zu begradigen (der Mähroboter hat kein Programm für Insektenschutz) und in den Gärten Platten zu verlegen, weil das keine Arbeit macht. Was dagegen hilft, ist also Unordnung, nicht pflegen, das Gras hoch stehen lassen, inklusive Disteln, Brennesseln und Löwenzahn, Blütenpflanzen aussäen und so weiter. Und protestieren. Gegen Glyphosat und Co und gegen die konventionelle Landwirtschaft mit ihrer tödlichen Kombi aus Insektenvernichtungsmitteln und flächendeckender Zuvieldüngung. Wer Näheres wissen will, dem sei das reich bebilderte oben genannte Buch empfohlen.

Um den Bogen zu meinem anderen Blog über „Nachhaltige IT“ zu schlagen: Es mag zwar arbeitsmarktpolitisch reizvoll sein, sich vorzustellen, dass die Menschen, die durch Künstliche Intelligenz vielleicht in den nächsten Jahrzehnten arbeitslos werden, eine neue Karriere als Blütenbestäuber anstreben könnten. Allerdings wären die Aufstiegsmögllichkeiten in dem Job sehr beschränkt, es würde sich um sehr wahrscheinlich schlecht bezahlte Saisonarbeit handeln, und jedes Insekt kann es besser. Aber vielleicht erfindet ja dann jemand die winzige Flugdrohne, die im Frühjahr zu Tausendschaften ausschwärmt, wahrscheinlich als BaaS (Biene as a Service) ausgeliehen, und den Job erledigt. Die kostet dann viel Geld, das in die Taschen ihrer Erfinder fließt. Die Bestäuber haben das Nachsehen wie zuvor die Insekten und werden vor Bild(röhren) zwischengeparkt, wo sie den ganzen Tag dämliche Netflix-Serien sehen und Soilant Green essen dürfen, das dank der hohen Bewohnerdichte auf Erden als einziges Lebensmittel reichlich zur Verfügung steht.

Da lobe ich mir doch das gute, alte Fluginsekt, zumal es mir auch noch hilft, Arbeit im Garten zu sparen.

Bibliographie: Andreas H. Segerer / Eva Rosenkranz: Das große Insektensterben. Was es bedeutet und was wir jetzt tun müssen. Oekom-Verlag München 2017. 204 Seiten, broschiert, reich farbig bebildert. ISBN 9-783962-380496, 20 Euro.

Wohnalternativen

Alle jammern über Versiegelung und Flächenverbrauch, aber niemand möchte eine kleinere Wohnung. Die durchschnittliche Wohnfläche pro Person hat sich seit den Fünfzigern mehr als verdoppelt – Platz, der bereitgestellt werden muss und für Grün nicht mehr zur Verfügung steht. Doch wie kann das gehen, ohne erhebliche Anteile an Lebensqualität einzubüßen oder vielleicht sogar welche zu gewinnen?

Hierzu macht das Buch „Einfach anders wohnen“ reich bebilderte Vorschläge. Dabei ist das ganze Buch so gegliedert, dass man sich vom Einfachen (einfach mal was wegwerfen) bis zu den schwierigeren, komplexeren Themen vorarbeiten kann oder aber mal hier, mal da schauen kann, was vielleicht taugt, um den eigenen Wohnkomfort ohne Platzverschwendung zu steigern. Manches mag da zwar ziemlich abgehoben scheinen, Schubladen in einer Treppe unterzubringen, um Stauraum zu gewinnen, ist zum Beispiel sicher nicht jedermanns Sache, und ein Bett jeden Abend komplett unter die Decke zu hängen, damit darunter Wohnraum frei wird, ist sicher auch nicht jedermanns Sache (dann lieber gleich das gute, alte Hochbett – da weiß man wenigstens, dass es immer oben ist). Andererseits: Irgendwo muss man ja anfangen, wenn es in den Städten enger wird und die Flächenpreise in die Höhe schießen.

Ganz nebenbei macht es Spaß, sich die Fotos anzusehen und sich für manche Ideen zu erwärmen, andere aber für völlig verrückt zu erklären. Das Buch ist eine gute anregung für Leute, die allein, zu zweit oder aber mit einer ganzen Familie gerade darüber nachdenken, ihre Wohnsituation zu verändern. Oder darüber, die vorhandene Wohnsituation anders zu gestalten. Oder einfach mal gründlich aufzuräumen…

Bibliographie: Daniel Fuhrhop: Einfach anders wohnen. 66 Raumwunder für ein entspanntes Zuhause, lebendige Nachbarschaft und grüne Städte.Broschiert, 123 Seiten, zahlreiche farbige Abbildungen. Oekom-Verlag, München, 2018. ISBN 9-783962-380168, 14 Euro.

 

Lieber gemeinsam statt einsam

Warum wird über ein Buch, das sich mit menschlicher Vereinsamung als Zeitphänomen, Krankheit und Todesursache befasst, im Blog  „Andere Wirtschaft“ geschrieben? Nun, ganz einfach: Weil der ständig steigende Zeitdruck, die Anforderung stetiger Verfügbarkeit, ständig steigender Produktivität und Effektivität und auch die stetige Mobilitätsanforderung den Druck auf die Arbeitskräfte permanent erhöht. Im Verein mit digitalen Kommunikationsmitteln, die virtuelle an die Stelle physischer Gemeinsamkeit setzen, entsteht mehr Einsamkeit.

Insofern ergibt sich aus der Frage, wie wir die Einsamkeit als verbreitetes gesellschaftliches Phänomen wieder reduzieren, womöglich auch die Frage, ob wir weiter wirtschaftliches Wachstum und Gelderwerb in den Mittelpunkt unserer Bestrebungen setzen wollen. Ob und wie viel also diese beiden Ziele etwas zum wichtigsten Ziel der Politik, nämlich dem „größten Glück für die größte Zahl“ beitragen, oder ob man zumindest in den relativ reichen Gesellschaften des Westens nicht andere Ziele in den Mittelpunkt setzen muss.

Der Autor, Manfred Spitzner, ist kein Unbekannter. Er hat sich mit seinen breit diskutierten Büchern „Digitale Demenz“ und „Cyberkrank“ höchst außerordentlich kritisch mit den Folgen der Digitalisierung und insbesondere sozialer Medien auseinandergesetzt. Nun wählt er sich also das Thema Einsamkeit, die Spitzner nach der Auswertung Hunderter Studien und Forschungsberichte aus aller Welt als „Lebensrisiko Nummer 1“ betrachtet. Dieses Risiko ist, so Spitzner, am höchsten in Jugend und Alter.

Spitzner unterscheidet zwischen sozialer Isolation und Einsamkeit. Ersteres bedeutet, dass man real zu wenige Menschen sieht. Zweiteres bedeutet das Gefühl, sich einsam zu fühlen, selbst wenn möglicherweise viele Menschen da sind. Das Buch bezieht sich auf letzteres.

Spitzner berichtet über aktuelle wissenschaftliche Erkenntnisse zu den Gemeinsamkeiten zwischen physischem Schmerz und Einsamkeit, bringt die neuesten Forschungsergebnisse dazu, ob Einsamkeit ansteckend ist, ob und wie Einsamkeit Stress auslöst. Und er analysiert, ob Online-Medien zur Reduzierung von Einsamkeit beitragen (nein).

Sodann analysiert Spitzner, wie sich anhand epidemischer Daten und Datenanalysen die grassierende Einsamkeit in den Industriegesellschaften auf die Sterbestatistik auswirkt, mit anderen Worten: ob und inwieweit Einsamkeit tatsächlich töten kann. Kurze Antwort: Sie kann. Ein Kapitel befasst sich auch mit der Einsamkeit in Beziehungen und damit, ob der Stress einer schwierigen Partnerschaft durch Trennung zu heilen ist.

Zum Trost für das gesamte, teils doch recht düstere Forschungspanorama kommen am Ende des Buches ein paar Tipps, wie jeder versuchen kann, seine eigenen Einsamkeitsgefühle zu reduzieren. Die wirksamsten Rezepte sind die, derer sich die Menschheit schon seit ihrer Existenz bedient: Als Einstieg Therapie, aber da dies kaum ein Dauermodell sein dürfte, kommt weiteres hinzu: anderen helfen, geben – ja, auch das ist wissenschaftlich belegt – singen, tanzen und mit anderen gemeinsam glücklich sein, wie auch immer man das zustande bringt.

Ob man sich nun in dem, was Spitzner schreibt, wiederfindet oder nicht: Es ist außerordentlich lobenswert, dass ein qualifizierter Mediziner die allgegenwärtige Erscheinung Einsamkeit ernst nimmt und versucht, über ihre Folgen aufzuklären. Das nächste Einzelappartment mit seinem Insassen ist nämlich wahrscheinlich nicht weit – wenn man nicht gar selbst in einem wohnt. Und vielleicht ist es der erste Schritt zu weniger Einsamkeit, diese Klause entweder selbst öfter zugunsten sozialer Kontakte zu verlassen oder einfach einmal bei den möglicherweise einsamen Nachbarn anzuklopfen.

((Bibliographie)) Spitzner, Manfred: Einsamkeit. Die unerkannte Krankheit. Schmerzhaft. Ansteckend. Tödlich. Gebunden, 316 Seiten, mit einigen s/w-Grafiken und ausführlichem Literaturverzeichnis, Verlag Droemer, München, 2018. ISBN 978-3-426-27676-1, 19,99 Euro.

News aus der Zukunft

Wie bei Data Economy zu lesen ist, verspricht Microsoft, mit Hilfe synthetischer DNA geradezu unvorstellbare Datenmengen in einem einzigen Tropfen synthetischer DNA zu speichern. Die Daten sollen dann auch wieder lesbar sein. Damit, so schreibt das Blatt, ließe sich die Funktionalität eines ganzen Rechenzentrums sozusagen auf der Handfläche tragen. Hoffentlich fällt der Tropfen nicht aus Versehen runter und zerplatzt. So was kommt selbst in den besten Labors ab und zu vor.

Das Internet macht`s möglich: Weltweit kann sich das zahlende Volk (Leute wie Sie und ich) beim Internationalen Verband der Investigativjournalisten (der wohl ohne das Web gar nicht in dieser Form möglich, aber vielleicht auch nicht nötig wäre) über die unverschämte finanzielle High Society nachlesen und sich darüber zu Recht aufregen, dass sie ihr Geld in windigen Offshore-Produkten hart am Rande der Legalität, aber gerade noch auf der richtigen Seite parkt. Mit dabei unter anderem: Alt-Bundeskanzler Schröder und Spielhallen-König Gauselmann. Fazit: Endlich Steuergesetze ändern, damit nicht nur die moderaten Einkommen das Gemeinwohl finanzieren.

Schließlich werden demnächst in Wien wieder die World Summit Awards an die Erfinder der wichtigsten 40 Digitalinnovationen mit Gemeinwohlwirkung verteilt. Leider erscheint die Website in meinem Firefox-Browser als Plain Text – vielleicht ist das ja bei Ihnen anders…

Und jetzt wünsche ich Ihnen eine geruhsame Nacht…

 

Werben für Afrika-Marshallplan

Dr. Gerd Müller, noch  Minister für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, CSU, wirbt für einen Marshallplan für Afrika – auch aus Angst vor neuen Migrationswellen. Europa soll trotzdem weiter wachsen.

“Unfair!“ ist im Juni 2017 erschienen, sozusagen gerade recht zur Bundestagswahl. Das Buch beschreibt, wie sich der Minister für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung der gerade noch amtierenden Bundesregierung die Zusammenarbeit mit Afrika vorstellt. Grundthese ist, dass die Situation in vielen afrikanischen Ländern kritisch ist, aber auch große Chancen birgt. Das größte Risiko sieht Müller darin, dass die rapide zunehmende Zahl junger Menschen in Afrika keine Arbeit und kein Auskommen findet und sich deswegen in Form neuer Migrationswellen auf den Weg nach Norden macht.

Davor möchte Müller Europa zuvorderst bewahren, das wiederholt er immer wieder. Denn, so schreibt er ebenfalls mehrfach, das Handy und das Internet zeigen so ziemlich jedem jungen Menschen genau, wie Menschen in Europa leben – nämlich in einem für afrikanische Verhältnisse geradezu unglaublichen Wohlstand. Das entfalte einen unwiderstehlichen Sog, und dagegen gelte es etwas zu tun, indem man das Leben in diesen Ländern lebenswert macht. Dazu brauche man zuvörderst Bildung und Wirtschaftswachstum in jenen Ländern, um auch ihnen Konsum-, Arbeits- und Karrieremöglichkeiten zu eröffnen. Es ist einer der Pluspunkte des Buches, dass Müller in seinen Beschreibungen immer wieder die geradezu unvorstellbare Diskrepanz zwischen den tradierten Lebensformen in Entwicklungsökonomien und dem Digitalzeitalter deutlich macht, in das die junge afrikanische Generation übergangslos hineinkatapultiert wird.

Gleichzeitig mit dem angestrebten afrikanischen Wachstum soll aber die industrialisierte Welt ihren Wohlstand behalten dürfen. Da dies unter gegenwärtigem Vorzeichen nicht möglich ist, weil man dafür etwa vier Erden brauchen würde, soll es vor allem Innovation und eine Effizienzrevolution richten. Wie das gelingen soll, ist derzeit schleierhaft – sind doch die Emissionen momentan noch immer im Steigen begriffen. Hier ist Müller ein nahezu unbegrenzter Optimist: Schließlich gebe es genügend fruchtbare Flächen, Solarenergie und anderes mehr in Afrika, um den dortigen Ökonomien zu ermöglichen, sich selbst zu tragen. Die Entkopplung von Wachstum und Ressourcenverbrauch beziehungsweise CO2-Ausstoß hält Müller anscheinend nicht für ein Problem – entgegen der Einstellung vieler Fachwissenschaftler, die tiefe Eingriffe auch ins Verhalten der industrialisierten Länder und ihrer Bewohner fordern, um den Klimawandel in den Griff zu bekommen.

Müller fordert ein Vorwärts zu einer ökosozialen Marktwirtschaft, in der sich die Akteure im Rahmen gesetzlicher und regulatorischer Schranken mehr oder weniger frei entfalten können, ohne die Umwelt zu ruinieren. Auch die Landwirtschaft soll sich ökologisch und nach den Prinzipien der sozialen Marktwirtschaft organisieren.

Schließlich verweist Müller auf Religion und Weltethos als Leitplanken für das menschliche Verhalten. Er sieht den Säkularismus der westlichen Demokratien eher als Ausnahmeerscheinung im weltweiten Kontext, kommt aber merkwürdigerweise nicht auf die religiösen Irrläufer zu sprechen, die die Welt derzeit im Namen des religiösen Fundamentalismus mit bewaffneten Auseinandersetzungen und Terror überziehen.

Das Buch gliedert sich in drei große Abschnitte, deren erster in mehreren Kapiteln eine Situationsbeschreibung des derzeitigen status quo der Welt liefert. Teil zwei liefert die Rezepte dafür, wie die unbefriedigende Situation zu beheben wäre. Teil drei beschreibt die angestrebten Zielzustände. Jeder Teil ist in mehrere Kapitel unterteilt, die sich jeweils mit Einzelthemen befassen. Jedes Kapitel wird durch einige zusammenfassende Thesen eingeleitet. Die Sprache ist anschaulich, Fachchinesisch ist in dieser Lektüre kein Problem.

Am Ende des Buches stehen eine thesenartige Zusammenfassung der wichtigsten Inhalte und zehn „Gebote“ für die Welt von morgen. In ihnen nehmen religiöse Inhalte erstaunlich viel Raum ein. Dies besonders, wenn man bedenkt, dass sich in der derzeit kriegerischsten Region der Welt, dem Nahe Osten, sich seit vielen Jahren die Anhänger diverser Religionen und Religionsvarianten erbitterte Kämpfe um Raum, Vorherrschaft und kulturelle Identität liefern, was den betreffenden Gegenden mitnichten irgendwelche Entwicklung beschert hat.

Bibliographie: Dr. Gerd Müller: Unfair! Für eine gerechte Globalisierung. Murmann-Verlag, Juni 2017. Gebunden, 194 Seiten, 19,90 Euro. ISBN 978-3-86774-579-6

Aktivitäten, die man unterstützen sollte

Durch das Greenpeace-Magazin, das ich beziehe, bekommt man durchaus Informationen, die sehr interessant sind. Zum Beispiel immer wieder über Initiativen, an denen man selbst teilnehmen könnte und die dazu beitragen, die Welt grüner  und gleichzeitig menschenfreundlicher zu machen. Beides geht nämlich durchaus Hand in Hand.

Diesmal habe ich zwei Projekte dort gefunden, die mich spontan besonders ansprechen: Das erste ist Opensourceseeds. Diese Organisation will selbstgezüchtetes Saatgut unter eine regulär erworbene Open-Source-Lizenz stellen, wodurch es immerwährend frei verfügbar bleibt und von der Patentierung durch die Saatgut-Riesen ausgeschlossen ist. Vorbild ist die Softwareindustrie, wo heute große Entwicklungsprojekte auch gemeinsam und unentgeltlich unter Open-Source-Lizenz erledigt werden. Freilich findet dort die kommerzielle Nutzung dann doch statt, indem an einem gewissen Punkt Firmenprojekte abgezweigt und außerhalb der Open-Source-Lizenz weiterentwickelt werden. Dennoch scheint Opensourceseeds ein super Ansatz zu sein, um das Schlimmste bei der Saatgut-Privatisierung zu verhindern. Im Moment gibt es nur zwei Sorten, aber es ist zu hoffen, dass private Züchtungsinitiativen diese Basis bald verbreitern und dass vor allem auch Bauern aus Ländern, wo noch viel nicht patentierte alte Sorten sind, anfangen, auf dieses Hilfsmittel zurückzugreifen.

Die zweite Initiative hat mit der Eingliederung von Flüchtlingen zu tun und heißt Willkommen Daheim. Hier geht es daurm, MigrantInnen online beim Deutsch-Spracherwerb zu unterstützen, indem man sich per Video-Chat einfach mit ihnen unterhält. Eine super Idee, finde ich, denn, so die Organisatorinnen, was MigrantInnen am meisten fehlt, ist manchmal schlicht die deutsche Sprachpraxis. Nur wer spricht, lernt eine Fremdsprache richtig, weiß jede und jeder, der oder die schon mal irgendwohin gereist ist.

Die Freiheit, die wir meinen

Bibliographie: Raoul Martinez: Die falsche und die wahre Freiheit. Wofür es sich jetzt zu kämpfen lohnt. Gebunden, 591 Seiten, ausführliches Anmerkungs- und Stichwortverzeichnis. Hoffman & Campe, Hamburg, 2017. 34 Euro, ISBN 978-3-455-50307-4, E-Book 26,99

Was ist Freiheit? Wie wird der Begriff heute in der Regel benutzt? Und was könnte oder sollte er bedeuten, wenn man ihn ernst nähme? Diese Frage erörtert der mehrfach preisgekrönte Journalist Raoul Martinez in seinem Buch „Die falsche und die wahre Freiheit.“

Dankenswerterweise legt Martinez gleich am Anfang seines Buches die wissenschaftlich-philosophischen Grundlagen seines Werkes offen. Sie machen klar, warum er in den übrigen Kapiteln zu seinen Schlüssen kommt. Das Buch ist in drei große Teile gegliedert, deren erster „Das Glücksspiel der Geburt“ heißt. Hier geht es in drei Kapiteln um Glück, Strafe und Belohnung. Fazit: Vieles, was wir heute als unser persönliches Verdienst auffassen, ist laut Martinez in Wirklichkeit Glück und insofern unverdient. Unser Verhalten werde, so Martinez, zur Gänze determiniert entweder durch unsere Gene und deren Zusammenwirken oder durch das, was wir im Lauf eines Lebens gelernt haben (also in erster Linie: zu Hause oder in der Schule). Daher sei die persönliche Verantwortung für Verhalten, wie sie z.B. die Justiz oder die Glaubensrichtungen postulieren, eine Fiktion, die dazu diene, gesellschaftliche Bedingtheiten und Zusammenhänge zu verschleiern und dem Einzelnen die „Schuld“ an Dingen zuzuschreiben, für die er oder sie letztlich nicht verantwortlich seien.  Strafen nutzten deswegen auch wenig bis nichts. Das aktuelle Strafrechtssystem der meisten Staaten sei daher aus Präventionsgesichtspunkten sinnlos und helfe nicht, Kriminalität zu senken. Und weiter: Materieller Lohn (im Arbeitsleben oder für ehrenamtliche Aktivitäten) könne die Motivation zu weiterem positivem Handeln blockieren, statt sie zu fördern. Gleichzeitig sei jeder Mensch intrinsisch motiviert, sich sinnvoll zu betätigen. Diese Thesen belegt der Autor reichlich durch Daten und Nachweise aus der aktuellen Wissenschaft und Forschung auf verschiedenen Gebieten, unter anderem aus Genetik, Medizin, Psychologie, Ökonomie und Sozialwissenschaften. Diese Denkgrundlagen widersprechen vielen gern gehegten Prämissen, zum Beispiel der Vorstellung, jeder sei für seine Handlungen voll verantwortlich, der vorgestellten Präventionswirkung von Gefängnisstrafen oder der skeptischen Annahme, ein garantiertes Grundeinkommen werde viele Menschen in gemeinschaftsschädliche Faulpelze verwandeln.

Auf diesen Grundlagen aufbauend, analysiert der Autor unser derzeitiges Gesellschaftssystem, das er als von Grund auf vermachtet begreift. Teil 2 („Die Konsensillusion“) beschreibt, wie der Freiheitsbegriff in gesellschaftlichen Subsystemen vereinnahmt wird, die letztlich dazu dienen, die Inhaber von Macht und Reichtum zu schützen und den großen Rest von Macht und Reichtum fernzuhalten. Hier geht es in drei Kapiteln um Herrschaft, Wahlen, Märkte und Medien.

Teil 3 („Der Kampf um unsere Freiheit“) schließlich beschäftigt sich mit Auswegen aus dieser Situation. Die Kapitel hier: Kreativität, Wissen, Macht, Überleben, Empathie. Kreativität müsse jeder einzelne an seinen immateriellen Werten ausrichten, um ihren Missbrauch zu vermeiden. Dazu müsse man seine eigenen Werte und ihre Entstehung hinterfragen, um sie am Ende möglicherweise neu zu definieren. Regelverletzungen zugunsten solcher Werte seien manchmal sinnvoll und unvermeidbar. Als Beispiel wählt der Autor hier die Durchsetzung schwarzer Rechte in den USA, die zunächst die Verletzung bestehender Segregationsgesetze erforderte. Wissen müsse allgemein zugänglich und an der Wahrheit ausgerichtet sein, statt die opportunistischen Auffassungen beliebiger Interessenträger zu transportieren. Beispielhaft belegt der Autor dies an den finanziell unterfütterten jahrzehntelangen Verdummungskampagnen der Tabakindustrie. Ein schönes Beispiel hierfür ist aber auch die „Abgaskrise“ der deutschen Automobilindustrie. Sie besteht ihrem Wesen nach in einem jahrelangen, in Konsens begangenen Betrug der Konsumenten weltweit durch ein Kartell von Autoproduktion, Kontrollbehörden und höchsten politischen Institutionen im Dienst großer Firmen. Als Begründung müssen Arbeitsplätze herhalten. Zum Wissen gehört bei Martinez übrigens auch die begründbare Utopie als Wegweiser in die Zukunft.

Macht entstamme in den heutigen Systemen nur scheinbar demokratischer Legitimation. Viel häufiger sei sie an den Besitz von Geld gekoppelt. Das bedeute, dass weniger reiche Akteure weniger Freiheit genießen. Großstrukturen wie Handelsabkommen, die EU und andere erschwerten es alternativen Akteuren, über Mechanismen wie demokratische Wahlen an die Macht zu kommen und die Spielregeln zu beeinflussen. Als Beispiel bringt Martinez hier Griechenland, wo die Regierung grundsätzlich weniger Macht besitzt als die großen internationalen Finanzierungsinstitutionen, die derzeit die griechischen Schulden decken. Im  Kapitel „Überleben“ geht es darum, wie interessierte Lobbyisten ihre materiellen und Machtinteressen sogar über den Erhalt der Lebensgrundlagen stellen. Dabei nutzten sie es für ihre Zwecke aus, dass die negativen Folgen des Klimawandels zuerst in vergleichsweise sehr machtlosen Regionen spürbar werden, etwa den Inselstaaten. Außerdem belegt Martinez am Beispiel der Klimakrise, wie einige wenige reiche und machtvolle Akteure immer wieder schaffen, die Realität des Klimawandels mit Fake-Daten und Verwirrinformationen wegzudefinieren. Als Auswege sieht Martinez  vor allem die dem Menschen eingeborene Fähigkeit zur Einfühlung in andere Lebewesen, gekoppelt mit einer dadurch erleichterten Solidarität mit den Schwachen und Machtlosen. Es tröstet und macht Hoffnung, dass der Autor diese beiden Komponenten  zum Kern des menschlichen Wesens rechnet.

Martinez ist trotz seiner sehr kritischen Thesen keinesfalls ein Träumer, sondern er belegt alle seine Thesen wissenschaftlich und zeitgeschichtlich mit zahlreichen Originalquellen. Deren Fundstellen lassen sich anhand eines ausführlichen Literaturverzeichnisses, das auch viele Onlinetexte nennt, durchgehend nachvollziehen. Damit reiht er sich ein in die Liga aktueller Fundamentalkritiker am herrschenden wirtschaftlichen und politischen System wie Pikety, der auch mehrmals zitiert wird, oder die ökologischen Wachstumskritiker. Die Stärke des Buches liegt in der Zusammenschau sehr unterschiedlicher Bereiche unter dem Blickwinkel einer freiheitlichen Gesellschaftsgestaltung. Seine ungewöhnliche Reflexion zum Freiheitsbegriff macht Mut, einmal genauer über seine inflationäre Verwendung in allen möglichen Zusammenhängen nachzudenken und darüber, was Freiheit wirklich bedeuten könnte.

Wirtschaftskritik pauschal und fundamental

Bibliographie: Wolfgang Schmidbauer: Raubbau an der Seele. Psychogramm einer überforderten Gesellschaft. Gebunden, 247 Seiten, ausführliches Stichwortverzeichnis. Oekom-Verlag München 2017, 22 Euro, ISBN 9-783960-060093.

Schon seit mehr als vierzig Jahren befasst sich der Psychologe Wolfgang Schmidbauer mit dem Einfluss der Konsumgesellschaft auf die Menschen. 1972 erschien „Homo Consumens. Der Kult des Überflusses.“ (nähere Info dazu z.B. hier ). In seiner aktuellen Publikation nimmt Schmidbauer diesen Faden wieder auf und passt seine Thesen der Gegenwart an. Wir leben in einer Welt, in der allgegenwärtige Vernetzung, soziale Medien, Online-Datingdienste und Werbung allenthalben das Bild prägen. Die Befriedigung physischer Bedürfnisse, mit der Menschen einmal quasi unaufhörlich beschäftigt waren, spielt für die meisten Bewohner industrialisierter Länder keine Rolle mehr. An ihre Stelle trat spätestens in den 50ern die Bedürfniserzeugung durch Werbung und der erwünschte Konsum möglichst vieler Güter oder Dienstleistungen, um das Wirtschaftswachstum zu steigern. Schmidbauer sieht den wichtigsten Motor des Überkonsums im Vergleichen mit anderen und dem Erwerb von Gütern aus Statusgründen, letzten Endes angeheizt durch die inhärenten Wachstumszwänge des marktwirtschaftlichen Systems. Denn langfristig stabil bleibt die kapitalistische Ökonomie nach heutiger Kenntnis nur dann sicher, wenn sie wächst, und auch aus Krisen hilft nur weiteres Wachstum, das einhergeht mit Konsum. Schmidbauer geht davon aus, dass sich dieser nicht, wie gern behauptet, vom Verbrauch physischer Ressourcen abkoppeln lässt und so letztlich zur Zerstörung der Ressourcenbasis führt. Die allgegenwärtigen Echtzeit- und sozialen Medien sowie die Werbeberieselung trügen dazu bei, dass der Vergleichsmotor, der den Konsum laut Schmidbauer antreibe, immer schneller läuft.

Die psychischen Auswirkungen der künstlich erzeugten und aufrecht erhaltenen Erwartung, es müsse alles jederzeit für jeden in beliebiger Menge und an jedem Ort verfügbar sein, liegen laut Schmidbauer in Versagensängsten und Depressionen. Denn natürlich ist in der Realität nicht immer alles „da“ – für viele einfach, weil das Geld fehlt. Und andererseits verliert das gerade Konsumierte ruck-zuck seinen Reiz, und es muss von Neuem konsumiert und zuvor verdient werden, auch das in immer schnellerem Rhythmus, der immer mehr Menschen überfordere.

Um die deswegen allgegenwärtigen Ängste und Depressionen der nimmersatten Sofortkonsumierer zu verdrängen, benutze man, so Schmidbauer, vor allem Antidepressiva, die aber das gefühlsmäßige Gleichgewicht durch einen chemischen Eingriff ins Gehirn dauerhaft veränderten und gewissermaßen die Kritikbereitschaft und -fähigkeit an den herrschenden Verhältnissen einschläferten. Mechanistische neurobiologische Modelle ersetzen die tiefgehende psychologische Analyse. Dabei würde man die Sinnhaftigkeit und den Wahrheitsgehalt schon wieder stark relativieren oder sie seien gar widerlegt. Tiefgehende und sinnhafte Kommunikation zwischen Menschen werde durch den allgegenwärtigen Bildschirm – bis hin zur medienunterstützten Psychotherapie – eher erschwert. Das liege aber im Dienste des ökonomischen Gesamtsystems, dem ja vor allem an relativ besinnungslosen Dauerkonsumenten gelegen ist.

Sinnvoll sei es stattdessen, die Ursachen des Missbefindens zu analysieren und anschließend konsequenterweise das Interesse der Betroffenen weg von der materiellen Welt und dem Konsum hin zu ihren Mitmenschen und sinnvollen Beschäftigungen zu lenken.

Mir erscheint die Kritik Schmidbauers in der Substanz durchaus berechtigt, teilweise allerdings auch überzogen. Insbesondere kenne ich genügend Menschen, die alles andere als oberflächlich sind, sich hauptsächlich mit anderen Menschen auseinandersetzen, sehr bewusst mit sich und der Welt umgehen und trotzdem an irgendeinem Punkt auf Antidepressiva zurückgegriffen und von ihnen profitiert haben. Wer aber gern eine gehörige Dosis Fundamentalkritik als Anregung zum Nachdenken möchte, ist hier gut bedient.