Derzeit glaube ich oft, ich bin im falschen Film. Wenn ich mich an das Ende des vergangenen Jahres erinnere, dann kommt es mir vor, als wäre ich in einem besonders schlechten, vollkommen überzogenen Katastrophenfilm gelandet: Angriffskrieg in Europa, explodierende Energie- und Lebensmittelpreise, drohende Hungersnot in Afrika, Covid-19 und ein Bundestag, der selbst milde Formen der Impfpflicht niederstimmt, dazu immer mehr Klimawandel. Oder wie man früher die Geißeln der Menschheit nannte: Hunger, Dürre, Krieg und Pestilenz.

Wie die meisten Angehörigen meiner Generation habe ich mich bislang in Westeuropa zumindest nach dem Fall des Eisernen Vorhangs 1989 relativ sicher gefühlt und geglaubt, es würde ohne Waffen schon gehen. Nicht so genau hingeguckt, was „da im Osten“ (Moldau, Georgien, Tschetschenien) so passierte. Das war ja so weit weg. Auch die Eroberung der Krim durch Russland hat mich (und wahrscheinlich viele mit mir) nicht wirklich aufgeschreckt, nur ein bisschen, immerhin ist München Partnerstadt von Kiew, und ich kenne ein paar Leute von dort flüchtig über meinen Chor. Warum sollte man sich von einem Land, Russland, bedroht fühlen, das uns doch immerzu zuverlässig Öl, Gas und Kohle liefert, auch wenn die Regierenden (und wohl auch beträchtliche Teile der Bevölkerung) des Landes ansonsten ziemlich unterschiedliche Vorstellungen haben als „wir“ (was immer das sein mag) und sowieso ständig das Ende des fossilen Zeitalters ausgerufen wird?

So kann man sich irren. Die komplett geänderte Situation durch den Ukraine-Krieg legt nun also nahe, sich über Dinge wie Bunkerbau, Investitionen in Rüstungsgüter und so weiter Gedanken zu machen. Denn wer weiß, was die nächste Ukraine ist. Also habe ich mir ein 2021 erstmals erschienenes Werk mit dem Titel „Future War“ aus dem Langen-MüllerVerlag bestellt. Geschrieben haben es drei erfahrene amerikanische Militärstrategen.

Das Buch beginnt (nach ausführlichen Vorwörtern, unter anderem von Klaus Naumann, General a.D.) mit einem Szenario: Russland greift in Nordeuropa an, es gibt gleichzeitig eine Seuche und Westeuropa kann sich nicht ausreichend gut verteidigen. Es muss um Frieden bitten und wird in der Zukunft zu einer demilitarisierten Zone unter sowjetischem Einfluss. Das Ganze wird im Jahr 2030 verortet. Wie schnell solche Szenarien veralten…

Es folgen ausführliche strategische Analysen. Sie sollen vor allem zeigen, dass Europa sich in den vergangenen Jahrzehnten mental irgendwo zwischen Taka-Tuka-Land und einem sicherheitspolitischen Wolkenkuckucksheim befunden hat, und zwar vorwiegend zum eigenen materiellen Vorteil. Schließlich musste man nicht so viel in Verteidigung und Rüstung investieren, so lange das die USA tun. Nun stehe Europa ohne wirksame Verteidigung da, schimpfen die Autoren, und die USA müsse sich sowohl mit Chinas Expansionsgelüsten als auch mit Europas Verteidigungslücken auseinandersetzen, was schlicht zu viel sei, lautet das Fazit dieser Überlegungen. Deshalb müssten die Europäer mehr tun.

Dann kommt eine Passage, die mich wirklich erschüttert hat. Sie bezieht sich auf einen potentiellen Angriff Russlands an einer der europäischen Schwachstellen (der hat ja nun schon stattgefunden): „Russland hätte (mit dem skizzierten Angriff, Anm. d.Aut.) das Bündnis (die NATO) vor vollendete Tatsachen gestellt, vielleicht in den baltischen Staaten, vielleicht aber auch in der Schwarzmeer-Region (sic!, Anm. d. Aut.). Wären die europäischen NATO-Staaten unter solchen Umständen bereit, zur Befreiung ihrer Verbündeten in einen Krieg gegen das atomar bewaffnete Russland zu ziehen? Wenn ja, dann im Bewusstsein, einen Atomkrieg zu riskieren. Wenn nein, wäre die NATO tot, die EU geschwächt und die transatlantischen Beziehungen zerbrochen.“

Ob letzteres, also das Zerbrechen der transatlantischen Beziehungen, geschehen wird oder schon geschieht, darf im Moment getrost bezweifelt werden. Immerhin haben die USA und auch viele europäische Länder einiges an Waffen und Geld auf den Weg gebracht, viele Länder nehmen viele Flüchtlinge auf, insbesondere Polen, und die Ukrainer entpuppen sich als wehrhaft und fester als je entschlossen, ihre Freiheit zu verteidigen. Und damit wohl auch unsere.

Dennoch haben die Strategen bezüglich des europäischen Verhaltens mehr oder weniger ins Schwarze getroffen, nur dass der russische Angriff ein knappes Jahrzehnt früher eingetroffen ist als sie es prognostizieren. Und dass die russischen Kräfte sich eines leichten Sieges wohl zu gewiss waren.

Außerdem gelangen Gräueltaten, wie man das Wüten einer entfesselten Soldateska nennt, heute schneller an die Öffentlichkeit. Das gilt selbstverständlich auch für die, die Amerika in Abu Ghareib begangen hat – mit dem Unterschied, dass die Verantwortlichen hier wenigstens zur Rechenschaft gezogen wurden.

Das Buch beschreibt auch, was geschehen müsste (oder hätte geschehen müssen?), um russische Angriffe auf mittel- und südosteuropäische Länder unwahrscheinlicher zu machen (falls es jetzt gemeinsam gelingen sollte, eine größere militärische Auseinandersetzung in ganz Europa oder weltweit abzuwenden). Gefallen werden die Rezepte niemandem, doch nachdem alle FriedensfreundInnen, mich eingeschlossen, dermaßen auf dem Holzweg waren, scheint es mir angemessen, den eigenen Hirnkasten zur Abwechselung den Einsichten der westlichen Militärs zu öffnen und dann neu nachzudenken.

Future War ist eine Anregung dazu, auch wenn das Lesen nervt, weil sich kaum jemand mit Abschreckung, Krieg und Waffengattungen oder Militärstrategie beschäftigt und sich die fremde Materie, abgesehen davon, dass sie erschreckend ist, nicht ohne Weiteres erschließt. Vor allem nicht, wenn man am Frieden hängt.

Julian Lindley-French, John R. Allen, Frederick Ben Hodges: Future Wars. Bedrohung und Verteidigung Europas. Langen-Müller-Verlag, München, 2. Auflage 2022. Gebunden, 408 Seiten, ausführliches Anmerkungs-, Literatur- und Personenverzeichnis. ISBN 978-3-7844-3579-4, 34 Euro.

Ein chinesischer Aufsteiger berichtet

Eine passende Ergänzung ist „Chinesisches Roulette“ von Desmond Chum, einem der großen Aufsteiger des modernen China. Das Buch befasst sich mit seiner der Lebens- und Aufstiegsgeschichte, ist also eine Autobiografie. Shum wuchs als einziges Kind eines Vaters aus der ehemaligen „Grundbesitzersklasse“ im maoistischen China auf. Deshalb war seine Familie diskreditiert und sein Vater versuchte, sich lebenslang unauffällig zu verhalten, um nicht sanktioniert zu werden. In diesem Sinn erzog seinen Sohn, der auch reichlich Prügel bekam.

Shum entwickelte erheblichen Ehrgeiz, studierte in den USA, schloss dort lebenslange Freundschaften und vermeintlich tragfähige Geschäftsbeziehungen, kehrte nach China zurück und scheiterte bei seinen ersten geschäftlichen Bestrebungen. Denn er gehörte nicht zur chinesischen Polit-Aristokratie, weshalb sich ihm die nötigen Türen nicht öffneten.

Dann lernte er eine Frau mit ausgezeichneten Relationen zur obersten chinesischen Funktionärskaste kennen, die beiden beschlossen, ein Gespann zu Aufstiegszwecken zu bilden, und heirateten, wobei Frau Shum nach den Worten des Autors stets der Motor dieses Aufstiegs war, weil sie die besseren Beziehungen hatten. Gemeinsam gelangen dem Ehepaar, was es sich vorgenommen hatte: Es entwickelte das Konzept von Sonderwirtschaftszonen rund um Flughäfen und setzte diese um – einschließlich der Vertreibung ganzer Dörfer für den Fortschritt (der Kohleabbau hierzulande lässt grüßen). Am Ende allerdings scheiterte die Ehe an der fehlenden emotionalen Basis und daran, dass Herr Shum lieber selber die Zügel in die Hand nehmen wollte. Später zog sich Frau Shum das Missfallen der Regierung zu. Sie wurde von dieser mit unbekanntem Verbleib aus dem Verkehr gezogen.

Shum verließ daraufhin fluchtartig mit seinem Sohn das Land und schrieb sein Buch, das in Deutschland bei Droemer erschienen ist. Man erfährt, wie (in seinem, wahrscheinlich aber nicht nur in seinem Fall) Aufstieg in China funktioniert: durch hemmungsloses Umschmeicheln der herrschenden Funktionäre bis hin zu Praktiken, die man hierzulande schlicht als Bestechung brandmarken würde. Allerdings geht es in Fußballverbänden und einigen anderen Bereichen bei uns wohl nur graduell besser zu.

Shums Kritik richtet sich vor allem gegen die Klientel- und Vetternwirtschaft in China sowie den fehlenden Respekt vor Grund- und Freiheitsrechten der Menschen bis dahin, Leute, die irgendwie nicht mehr in die Landschaft passen, hinter Schloss und Riegel zu verbringen oder sonstwie in deren Freiheit einzugreifen. Gleichzeitig offenbart Shum ein ungebrochenes Verhältnis zu Wachstum und kapitalistischem Wirtschaften, auch damit ist er sicher unter den chinesischen Aufsteigern keine Ausnahme.

Hierzulande scheint es merkwürdig, dass globale Probleme wie Ressourcenknappheit und Klimawandel, denen sich auch China gegenübersieht, in dem Buch nicht einmal in einem Halbsatz auftauchen. Shum ist durchaus nationalistisch und in diesem Punkt eins mit der Führung seines Landes. Was man aus dem Buch auf jeden Fall lernt, ist, dass China unbedingt eine Umverteilung der weltweiten Machtstrukturen anstrebt und dass Chinas Wirtschafts- und Politfürsten vom Segen und der Berechtigung ihrer eigenen Vorgehensweisen zutiefst überzeugt sind. Das lässt nichts Gutes ahnen, wenn man bedenkt, wie viele Vorprodukte und Rohstoffe wir von dort beziehen.

Desmond Shum: Chinesisches Roulette. Ein Ex-Mitglied der roten Milliardärskaste packt aus. Droemer-Verlag Februar 2022. Gebunden, 300 Seiten. 22 Euro, ISBN 978-3-426-27878-9

Jahrbuch Ökologie: Städte im Mittelpunkt

Nun noch zu einem vergleichsweise harmlosen Thema: Auch 2022 ist wie jedes Jahr ein Jahrbuch Ökologie erschienen. Diesmal widmet sich die umfangreiche Publikation den Städten als entscheidender Kraft im Anthropozän. Schließlich lebt dort für alle vorhersehbare Zukunft die Mehrheit der Menschen auf der Erde.

Das über 340 Seiten lange Buch gliedert sich in fünf Abschnitte. Am Anfang steht eine Einleitung zur Rolle der Städte im Anthropozän im Allgemeinen. Sie beschreibt beispielsweise den Grad der Bevölkerungskonzentration in Städten und andere Grundfaktoren.

Es folgt ein Abschnitt, der grundsätzliche Probleme und Chancen von Städten heute analysiert. Hier geht es um eine Definition von Stadt, den ökologischen Stadtumbau, Änderungsbedarf in Stadtentwicklung und Architektur, die Rolle von Städten beim Klimaschutz, die Bezüge von Städten zu den sie umgebenden Regionen und die transformative Kraft von Städten. Schließlich wird die New Urban Agenda für nachhaltige Stadtentwicklung thematisiert.

Anschließend geht es um ökologische Warnsignale, die sich in Städten bemerkbar machen: Massiver Energie- und Materialverbrauch, Hitzeglocken, Abfallberge, Dauerstau, Lichtverschmutzung und so weiter.

Dann werden städtische Ansätze zu mehr Nachhaltigkeit präsentiert. Hier geht es um eine ökologische Vision von Stadt, eine gemeinsame Perspektive von Umweltschützern und Stadtplanern, städtische Transformation samt der dafür nötigen kreativen Prozesse, die Rolle der Digitalisierung, das Spannungsfeld zwischen Nachhaltigkeit und Wohnungsbau, den nötigen Infrastrukturumbau, die Sinnhaftigkeit lokaler Autonomie und alternative Mobilitätsoptionen wie das Fahrrad.

Der letzte Abschnitt schließlich wird sehr konkret und ist daher besonders interessant zu lesen: Er liefert in Form einzelner Städteporträts zahlreiche Beispiele dafür, wie viel und was Städte aus dem In- und Ausland für Umweltschutz und Nachhaltigkeit tun oder eben nicht tun. Außerdem kann man dort auszugsweise die Agenda 2030 und die New Urban Agenda nachlesen.

Leider lesen sich die Beiträge oft so, als wären sie Sekundärverwertungen von anderswo gehaltenen Kongressbeiträgen. Die Texte enthalten teils viel Redundanz zu anderen Texten in dem Buch. Die Sprache kommt häufig als gestelztes Amtsdeutsch daher. Eine stilistisch-formale Vereinheitlichung oder Glättung war offensichtlich in dem Reader nicht angestrebt, was den Lesegenuss empfindlich beeinträchtigt. Dennoch dürfte das Buch für Menschen, die in der Stadtplanung, Stadtverwaltung oder Kommunalpolitik tätig sind, nützlich sein.

Heike Leitschuh u.a. (Hrsg.): Jahrbuch Ökologie 2022: Das Zeitalter der Städte. Die entscheidende Kraft im Anthropozän. Hirzel-Verlag Stuttgart 2022. Broschiert, 344 Seiten, diverse farbige Abbildungen. 24 Euro, ISBN 978-3-7776-3032-8

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