Unangenehme Aktualitäten, interessante Fragen, ein Einblick in russische Untiefen und eine neue Theorie des Menschen

Und schon ist es November. Bis gestern war es mehr als 20 Grad mehr, das ist schon unheimlich. Heute sieht es aber richtig novemberig aus. Hilft aber nichts. Der erste Monitoringbericht über die deutschen Bemühungen, bis 2030 ausreichend Kohlendioxid einzusparen, um das 1,5-Grad-Ziel zu erreichen, hat ein schlichtes Ergebnis: Die bisherigen Bemühungen reichen nicht. Was anderes erwartet? Wohl kaum.

Denn statt sich mit dem unaufhaltsam voranschreitenden Klimawandel zu beschäftigten, hat die europäische Welt im Moment vor allem damit zu tun, die Auswirkungen von Putins Angriff auf die Ukraine irgendwie zu handhaben, einschließlich Gaspreisbremse, LNG-Terminals und Weiterbetrieb der Atomanlagen.

Russland von innen

Wer gern mal etwas mehr darüber wissen will, wie Russland von innen tickt und was die außerparlamentarische Opposition, namentlich die Anhänger von Alexei Nawalny darüber denken, dem sei das Buch „Putinland“ des Nawalny-Vertrauten Leonid Wolkow, erschienen bei Droemer, empfohlen. In dem Buch beschreibt Wolkow, wie Putin in den Neunzigern seine Macht ausbaute, wie die innerrussische Widerstandsbewegung um Nawalny entstand, wie sie arbeitet, welche Erfolge sie hatte und was es bedeutet, dass ihr Anführer im Straflager sitzt. Man erfährt, wie das russische Regime im Allgemeinen mit Meinungsabweichlern umgeht, erfährt aus einer anderen Perspektive, was beim Giftanschlag auf Nawalny geschah und warum er trotzdem nach Russland zurückkehrte. Wolkow hat die Hoffnung, dass der „Putinismus“ nach Putin zerfällt, und dass das Land nach einer Phase des Chaos sich wieder auf den Weg nach Europa machen wird. Schön wäre es.

Vielleicht würde dann dem Klimawandel wieder mehr Aufmerksamkeit geschenkt, was absolut wünschenswert wäre, wenn unsere Enkel hier noch etwas Spaß haben sollen.

Das Letzte von der Letzten Generation

Derweil ist die erste Frau gestorben, weil der Rettungswagen nicht durchkam. Das wiederum einer Fahrbahn-Klebeaktion der „Letzten Generation“ und habe auch an der Handhabung dieses Umstands gelegen – siehe Pressemitteilung. So sehr ich finde, dass ein Tempolimit auf deutschen Autobahnen eigentlich keine politische Frage mehr sein sollte, sondern eine des gesunden Menschenverstandes (warum soll bei uns nicht funktionieren, was überall auf der Welt funktioniert), so wenig halte ich das Festkleben auf Fahrbahnen für hilfreich.

Gleichzeitig finde ich die Wut der „Letzten Generation“ sehr verständlich, und die Frage ist, wie diese Gruppe, aber auch andere, denen es ähnlich geht, ihren Frust wirksam ausdrücken können, ohne dass es tödliche Folgen zeitigt. Denn ich zweifle nicht, dass noch aus vielen Ohren jede Menge Schmalz zu entfernen ist, bevor die Nachricht von den schleunigst nötigen Veränderungen bei gesellschaftlichen und individuellen Verhaltensweisen in der wünschenswerten Klarheit auf breiter Front in die Gehirne vordringt. Denn solche Nachrichten sind selten angenehm, sobald es darum geht, jedem und jeder auch persönliche Veränderungen abzuverlangen, die unbequem sind (Nicht mehr ferienfliegen? Kein Grillwürstchen?) . Ich habe dafür keine Lösung. Leider.

Der Mensch als Konglomerat von Lebewesen

Vorschläge, wie man das bisherige Wirtschafts- und Wachstumsmodell durch natur- und menschenverträglichere Verhaltens- und Wirtschaftsweisen ablösen kann, gibt es viele. Einen weiteren hat jüngst Jeremy Rifkin mit „Das Zeitalter der Resilienz“ veröffentlicht.

Rifkin beginnt damit, einen Schlüsselbegriff unserer Zeit, nämlich Effizienz, neben einen Schlüsselbegriff der Naturwissenschaften, nämlich Entropie, zu stellen und kommt zu dem Schluss: Je mehr technische Effizienz, desto höher die Entropie. Und natürlich erklärt Rifkin auch, was Entropie überhaupt ist, nämlich der natürliche Drang der Dinge, sich dem niedrigsten Organisations- und Energiezustand anzunähern. Sprich: zu zerfallen. Statt Effizienz der Produktionsprozesse in den Mittelpunkt zu stellen, müsse es zukünftig vor allem um Resilienz gehen, also um unsere Fähigkeit, Entropie möglichst gering zu halten.

Dann beschreibt Rifkin, wie der Mensch sich die Erde unterworfen hat (Landwirtschaft, Bergbau, Kolonialismus, andere extraktive Praktiken), immer aus der Perspektive, dass es sich bei der Umwelt um kein gleichwertiges Gegenüber, sondern um ein beliebig nutzbares Objekt handelt.

Im dritten großen Abschnitt erklärt Rifkin, wie intensiv Menschen (und alle Lebewesen) zur sie umgebenden Natur gehören, statt sich gegenüberzustehen, wie sich Natur und Mensch wechselseitig durchdringen. Dabei erklärt er dem individualistischen Prinzip, also der Theorie vom autonomen Individuum, den Krieg. Menschen seien schon deshalb nicht autonom, weil sie etwa zur Hälfte nicht aus menschlichen Zellen, sondern aus Bakterien oder Viren bestehen. Sie sind also ein Konglomerat aus allen möglichen Lebewesen, dessen hoher Organisationsgrad gegen den Drang zur Entropie nur durch die ständige Zufuhr von Energie aufrecht erhalten wird. Und wie der Mensch als spezifische Ansammlung von Lebensformen funktioniere, wisse man auch noch nicht genau – siehe das Darmbiom, dessen Funktionieren gerade erst erforscht wird. Insofern seien Menschen und überhaupt alle lebenden Wesen dissipative Strukturen, die sich in einem ständig wechselnden Fließgleichgewicht mit ihrer Umgebung befinden. Zerstören sie ihre Umgebung, zerstören sie so nutwendigerweise sich selbst.

Dann kommt Rifkin zum wissenschaftlich wohl anfechtbarsten Teil seiner Überlegungen, nämlich zum Abschied von der Darwinschen Vorstellung, allein die Gene steuerten, wie ein Lebewesen sich entwickelt. Erstens sei der menschliche Organismus über biologische Taktgeber im Gehirn auf bestimmte zeitliche Muster geeicht. EInige davon sind mit der Außenwelt koordiniert, und dies geschieht, so Rifkin, über elektromagnetische Felder, etwa das Erdmagnetfeld. Diese Befunde sind gut belegt, für die Entdeckung biologischer Uhren im Gehirn wurden sogar schon Nobelpreise verliehen. Dann aber wird es partiell spekulativ: Auch bei der Embryonalentwicklung sieht Rifkin unter Berufung auf einige wenige Studien elektromagnetische Felder am Werk, die mitentscheiden, wie sich die Gene des jeweiligen Individuums am Ende umsetzen. Rifkin betrachtet elektromagnetische Felder als universelle Lebensarchitekten. Wie genau diese Steuerung vonstatten gehen soll, sagt er nicht, und anscheinend gibt es dazu auch noch keine ausformulierte wissenschaftliche Theorie, sondern höchstens ein paar experimentelle Befunde. Die vermeintlich sicheren Erkenntnisse ohne schlüssige Theorie dahinter werden heute in erster Linie von halbseidenen Heilunternehmern dazu genutzt, medizintechnische Hilfsmittel mit teils zweifelhaftem Nutzen teuer zu verkaufen. Hier bewegt sich also Rifkin weg vom gesicherten wissenschaftlichen Konsens, was schade ist und dafür, seine These vom Menschen als dissipativer Struktur zu belegen, auch gar nicht notwendig.

Im letzten Abschnitt wird es wieder greifbarer. Hier geht es nämlich darum, was die neue Sicht der Dinge (der Mensch als im Fluss befindlicher Teil der Natur, der mit ihr vielfältig bis in den Körper hinein unauflöslich verschränkt ist) für Wirtschaft, Gesellschaft und Nachhaltigkeit bedeutet. Nämlich das Ende des globalen Kapitalismus, bioregionale Wirtschaftskreisläufe und viel stärker partizipationsorientierte Demokratiemodelle. Mag man das nun bejahen oder nicht, lesenswert ist das Buch auf jeden Fall, schon allein, um mitdiskutieren zu können. Immerhin hat Rifkin damit einen New-York-Times-Bestseller gelandet.

Absurde Fragen korrekt beantwortet

Diejenigen, denen das alles zu ungemütlich ist, können sich mit Band zwei des Bestsellers „What if?“ in andere Sphären katapultieren lassen. Mögen kann man das Buch nur, wenn es einem nichts ausmacht, dass es hier keine fortlaufende Handlung oder Erklärung gibt, sondern relativ unverbunden nebeneinander stehende Fragen aus dem großen Bereich der Naturwissenschaften, vor allem der Physik gestellt und so gut es geht beantwortet werden.

Und zwar absurde, hypothetische Fragen wie die, wie lange es dauern würde, auf einer Rutschstange zwischen Erde und Mond von da nach dort zu gelangen. Diese werden dann ernsthaft und nach dem aktuellen physikalischen Wissen beantwortet. Gewürzt sind die Antworten mit kleinen Zeichnungen, die das Ganze humorig auflockern. Am interessantesten fand ich das Spiel mit den Dimensionen, das so charakteristisch für die Physik ist. Sie vermisst und berechnet ja wirklich buchstäblich alles: vom atomaren Bruchteil bis zum Galaxienhaufen am Ende der Milchstraße. Dabei arbeitet sie mit Zehnerpotenzen und Maßstabsvergleichen, denn unser Hirn ist fürs Exponentiale nicht gebaut. Schade eigentlich, sonst würden wir wahrscheinlich viel besser begreifen, was ein exponentieller Anstieg von irgendwas tatsächlich bedeutet und endlich mehr tun, um die planetare Überhitzung durch unsere Aktivitäten endlich durch ein angepasstes Verhalten abzumildern oder irgendwann umzukehren.

Bibliographie: Leonid Wolkow: Putinland. Der imperiale Wahn, die russische Opposition und die Verblendung des Westens. 1. Auflage, Droemer, München 2022. Gebunden, 232 Seiten. ISBN 978-3-426-27899-4, 22 Euro.

Jeremy Rifkin: Das Zeitalter der Resilienz. Leben und denken auf einer wilden Erde. 1. Auflage, Campus-Verlag, Frankfurt 2022. Gebunden, 359 Seiten, ausführliches Fußnoten- und Stichwortverzeichnis. ISBN 978-3-593-50664-7, 32 Euro.

Randall Munroe: What if? 2 Was wäre wenn? Weitere wirklich wissenschaftliche Antworten auf absurde hypothetische Fragen. 1. Auflage, Penguin-Verlag, München. Mit Stickerbogen und zahlreichen s/w-Zeichnungen. Broschiert, 410 Seiten. ISBN 978-3-328-60093-0, 18 Euro.

Übrigens: Bücher kauft man in der Buchhandlung um die Ecke! Die ist persönlich da, schafft Arbeitsplätze und erhöht die Lebensqualität des Viertels.

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Im August: Selbstbewegung gegen Drei Grad Plus

Im Moment dreht sich alles darum, ob nun Kohle, Atom oder Einsparungen das fehlende Gas ersetzen sollen. Das stimmt angesichts der klimatischen Lage der Welt nicht gerade optimistisch. Immerhin scheinen die verheerenden Waldbrände, Trockenheiten etc. zumindest anderswo langsam so etwas wie Erkenntnis reifen zu lassen, so kann man jedenfalls hier nachlesen. Und ob diesen Erkenntnissen Taten folgen, steht noch lange nicht fest. Bekanntlich schert die meisten ihr Gewäsch von gestern eher nicht so viel.

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Zusätzlich zu den Hiobsbotschaften noch zwei Rezensionen. Das erste ist einer der vielen Weckrufe, die hoffen, die Menschheit doch noch zu schnellem Handeln zu bewegen. Herausgeber Klaus Wiegandt vom Forum für Verantwortung hat namhafte Klimaforscher zusammengeholt und schon zwei Anläufe unternommen, die im Buch enthaltenen Fakten und Ideen einer breiten Öffentlichkeit zugänglicher zu machen. Doch einmal kam Corona dazwischen, und nun der Ukraine-Krieg, der die Medien dominiert und wahrscheinlich derzeit auch das Denken der meisten Menschen. Wenn sie nicht gerade über die wahrscheinlich klimawandelbedingte Trockenheit sinnieren, die derzeit die Ernten verwüstet und Gewässer austrocknen lässt.

Was steht nun in „3 Grad mehr“, das sich übrigens zum Spiegel-Bestseller entwickelte. (Leider erfährt man nicht, welche Verkaufszahlen hinter dieser Bezeichnung stehen.) Jedenfalls: Die Autoren legen dar, was es für uns und für den Rest der Welt bedeutet, wenn wir ungebremst auf dem aktuellen Pfad fortschreiten. Sie legen dabei die Schlussfolgerungen des aktuellen Berichts des Weltklimarates zugrunde und verknüpfen zudem Klimafolgen und Artensterben zur Perspektive eines perfekten GAU für die Biosphäre, uns eingeschlossen. Dabei sehen sich die Autoren auch die Folgen für Deutschland und die Weltwirtschaft an. Und weisen darauf hin, dass sich die Kosten des Kampfes gegen und der Anpassung an den Klimawandel gegenüber dem Stern-Report Anfang des Jahrtausends schon erheblich erhöht haben. Jüngste Schätzungen liefert Deloitte in einem aktuellen Report. Die Zahlen sind so groß, dass ich sie kaum noch begreife.

Nach diesem ersten, rund 120 Seiten langen Teil folgt der zweite, etwas längere (immerhin) der sich mit möglichen Lösungen der Klima- und Artenschutz-Herausforderung befasst. Soviel vorweg: Mit sehr guten Argumenten legen die Autoren dar, dass weder Digital- noch Erneuerbaren-Technik allein reichen wird, uns auf eine nachhaltige Entwicklungslinie zu bringen. Natürlich braucht man sie auch, das ist eben nicht genug. Schon allein deswegen, weil möglicherweise die Rohstoffe nicht reichen, um die ganze Welt auf megawattstarke Windturbinen mit Tonnen an verbautem Stahl und Beton oder Photovoltaik umzustellen. Vielmehr seien, so die Autoren, neben Technologie sogenannte biobasierte Lösungen notwendig.

Was ist unter biobasierten Lösungen zu verstehen? Lösungen, die an der Natur ansetzen und ihr helfen sollen, ihre für uns überlebenswichtigen Funktionen weiter zu erfüllen. In allererster Linie ein sofortiger Stopp der Waldvernichtung überall, besonders in den Tropen, und den Artenschutz berücksichtigende Formen der Aufforstung, und zwar nicht mit Palmölplantagen, dort und anderswo. Machen wir das nicht, emittiert der Wald in Zukunft Kohlendioxid, statt es zu speichern. Das mit der Zeit gewonnene Holz (denn Nutzung soll es selbstverständlich geben, nur anders) soll in langlebige, moderne Gebäude, Möbel und andere Gebrauchsgegenstände aus Holz eingebaut werden, um das darin enthaltene Kohlendioxid so der Atmosphäre zu entziehen.  Zweitens brauche man schnellstens eine Wiedervernässung aller Moorflächen, wobei diese dann massiv Kohlenstoff binden, aber dann mit speziellen landwirtschaftlichen Praktiken, sogenannten Paludikulturen, auch nass bewirtschaftet werden können. Drittens sollen alle Möglichkeiten, den Boden ohne synthetischen Dünger zu verbessern, ergriffen werden. Als besonders sinnvollen Ansatz betrachten die Autoren Pflanzenkohle, also Terra Preta. Schließlich müsse alles getan werden, um terrestrische Wasserkreisläufe zu stärken. In den Beiträgen zu den einzelnen Techniken finden sich auch vielversprechende bereits existierende Umsetzungsansätze, neue Gremien, Pakts, Forschungsprojekte und Verfahren, von denen die breite Bevölkerung sonst eher wenig mitbekommen dürfte.

Der dritte Teil des Buchs, er ist vergleichsweise kurz, befasst sich damit, wie man endlich zur Umsetzung solcher Ideen kommen kann. Es weist auf die Verantwortung der Zivilbevölkerung hin: Politik sei im demokratischen System nur dann handlungsfähig, wenn die Bürgerschaft Handeln einfordert, und dazu müsse man ihr die Dimensionen und Konsequenzen der Bedrohungen durch den Klimawandel nahebringen. Was der Herausgeber ja schon versucht hat, aber an den Aktualitäten bislang scheiterte. Und das, obwohl das Geld für eine breite Kampagne inzwischen vorhanden ist. Nun ist aber die Aufmerksamkeit seiner Partner weg. Wegen Ukraine, siehe oben. Dafür wird der Klimawandel schlimmer, und vielleicht sorgt ja das für den nötigen Aufwach-Moment.

Schließlich liefert das Buch Finanzierungsvorschläge. Denn zahlen wird viel von der notwendigen biobasierten Transformation aus historischer Verantwortung, aber auch einfach, weil in Afrika und vielen tropischen Ländern in Asien nicht genügend Geld ist, der Westen respektive die Industrieländer. Und hier diejenigen, die in den letzten Jahrzehnten Gelegenheit hatten, Vermögen aufzuhäufen, nicht Otto Normalverbraucher. Zu den Aufbringungsmethoden gehören insbesondere eine kleine Finanztransaktionssteuer, die es inzwischen in einigen Ländern bereits gibt, und eine modifizierte Erbschaftssteuer zusammen mit einem zu gründenden Staatsfond. Nach neuem Erbrecht soll das steuerfreie Erbe von Privatpersonen dritten Grades (z.B. Neffen/Nichten/…) höher werden, damit man solchen Personen ohne Steuerabzug beispielsweise ein privates Häuschen oder eine Wohnung vermachen kann. Dafür wird Betriebsvermögen in die Erbbesteuerung einbezogen, aber in Form einer stillen Beteiligung des Staatsfonds an vererbten Betrieben und deren Gewinn von 30 Prozent. Die wirtschaftliche Handlungsfähigkeit der Eigner bleibt in diesem Modell voll erhalten, die des Staates steigt. Denn der kann von dem Geld endlich die nötigen Klimaschutzmaßnahmen woanders finanzieren, woran ja vielversprechende Ansätze bislang gescheitert sind. Außerdem können die Erben mit der Zeit ihren Anteil zurückkaufen.

Argumentativ weisen die Autoren darauf hin, dass das in den Firmen steckende Geld ja nicht von den Erben oder deren Erblassern allein erwirtschaftet wurde, sondern von ihren Mitarbeitern, und dass insofern de Allgemeinheit auch einen Anteil am vererbten Vermögen fordern könne, der über die bezahlten Steuern hinausgeht. Hier werden viele aufschreien, aber letztlich ist dies ein interessanter neuer Ausweg aus der Betriebsvermögens-Debatte. Wird unter 10 Millionen vererbt, gilt übrigens das alte Recht. Der Bäckermeister muss also nicht fürchten, dass der Staatsfonds demnächst an seinen Brötchen mitverdient.

Würde all dieses umgesetzt, hätten wir noch eine Chance, das 1,5-Grad-Ziel einzuhalten und damit unsere Zivilisation vor dem Schlimmsten zu bewahren. Und wirklich teuer wäre das auch nicht – die Rettung der Banken habe, so die Autoren, erheblich mehr gekostet.

Insofern macht das Buch Hoffnung und Angst zugleich. Hoffnung, weil noch viel möglich wäre, finge man nur endlich an. Angst, weil die Zeit unwiderruflich abläuft und oft doch immer wieder etwas anderes wichtiger ist als der Klimawandel.

Das zweite Buch beschäftigt sich mit dem Thema Mobilität, also dem Bereich, wo sich in Sachen Kohlendioxid-Einsparung bislang am wenigsten getan hat: Mobilität und Verkehr. Dabei sehen sie sich besonders die Städte an, in denen ja immer mehr Menschen leben. Und mobil sind.

Die AutorInnen (die sich übrigens um gendersensible Sprache bemühen und auch das Geschlecht bei ihren Verkehrsplanungen mitdenken) wissen, wovon sie reden: Stephan A. Jansen ist Stiftungsprofessor für Urbane Innovation an der Universität der Künste Berlin, lehrt außerdem an der Karlshochschule in Karlsruhe Management, Innovation und Finanzen und steht dort dem Center for Philantrophy and Civil Society vor. Martha Marisa Wanat ist geschäftsführende Gesellschafterin von BICICLI, Gesellschaft für Urbane Mobilität und von MOND (Mobility New Design), einer Mobilitätsberatung.

Gemeinsam analysieren sie die heutige verkehrliche Situation in den Städten, beleuchten die Potentiale bisheriger Lösungsvorschläge von E-Car über Scooter und Sharing-Modelle bis hin zur multimodalen Verkehrszentrale und machen ihrerseits Vorschläge.

Weil beide auch aus der kreativen Ecke kommen (Wanat ist auch Sängerin, Jansen lehrt an einer Kunstakademie) oder ihr zuzurechnen sind, klingen sowohl ihre Argumentationen als auch ihre Vorschläge erfrischend anders als der Einheitssprech auf den gängigen Verkehrskongressen.

Die beiden stellen einige Grundthesen des gegenwärtigen, technikdominierten Diskurses in Frage. Das E-Auto betrachten sie eher als „Motoren-Methadon“ denn als Lösungsmittel für städtische Verkehrsprobleme. Das ist beruhigend, denn bisher haben die E-Karossen aber auch gar nichts zur Kohlendioxideinsparung beigetragen, und wo sie geladen werden sollen, wenn sie sich so verbreiten würden, wie die Industrie und die Politik hoffen, steht bislang in den Sternen. Dasselbe gilt für Sharing-Modelle. Sie scheinen, so die Untersuchungsergebnisse, die das Autorenduo referiert, eher mehr Verkehr zu erzeugen als welchen einzusparen, jedenfalls, wenn sie nach heutigen Konzepten abgewickelt werden. Außerdem sind gerade die massenweise die Städte verunzierenden Scooter eher ein Ärgernis als ein Verkehrsmittel.

Die Lösung der AutorInnen, kurz gefasst: Alles an seinem Platz, und alles miteinander über Mobilitätszentralen verbunden, alle dafür nötigen Informationen per Digitaltechnik zugänglich. Das Konzept bedeutet unausweichlich eine gründliche Entthronung des automobilen Individualverkehrs. Denn der nimmt zu viel Platz weg, ohne dass dem eine entsprechende Beförderungsleistung gegenüberstünde. Statt dessen: In der Stadt oder Gemeinde Rückkehr zur Selbstbewegung per Fuß oder Rad und öffentlich, was einen gründlichen Ausbau des öffentlichen Verkehrs verlangt. Alles andere nur dann, wenn es sich nicht vermeiden lässt. Natürlich gilt das für Städte und ihre Peripherie, aber da lebt ja auch längst die Mehrzahl der Bevölkerung. Fürs Land schlagen die Autoren unter anderem Teleworking und mehr öffentlichen Verkehr, entsprechende Investitionen sowie maßvolle Nutzung von Autos etc. vor.

Das Gute ist, dass die AutorInnen ihre Thesen durch bereits real existierende und funktionierende Beispiele, die zeigen, dass eine Zurückdrängung des Autos keine Katastrophe, sondern die Tür zu mehr Lebensqualität für die gesamte Stadt ist. Ihre Skepsis gegenüber E-Autos, Sharing etc. begründen sie mit viel Datenmaterial, das sie in sorgfältigen Metastudien gewonnen haben. Insofern lassen sich ihre Argumente kaum vom Tisch wischen.

Wer zukunftsfähige Konzepte entdecken und das übliche Mobilitätsdenken einmal in teils amüsanter, teils etwas verzwickter Sprache auf den Kopf gestellt sehen möchte, dem sei dieses Buch empfohlen. Denn die Bewegung im Kopf geht der Selbstbewegung im Verkehr wahrscheinlich bei vielen voraus. Die Lektüre ist ein guter Anstoß dazu. Einziger Kritikpunkt: Die vielen S/W-Abbildungen sind teilweise so klein beschriftet, dass man deren interessante Inhalte nur mit der Lupe erkennen bzw. lesen kann. Hier hat der Verlag geschlampt, was schade ist.

Bibliographie:

Klaus Wiegandt, Forum für Verantworetung (Hrsg.): 3 Grad mehr. Ein Blick in die drohende Heißzeit und wie uns die Natur helfen kann, sie zu verhindern. Oekom-Verlag, München, 2. Auflage 2022. Broschiert, 347 Seiten, zahlreiche farbige Abbildungen, 25,00 Euro. ISBN 9-783962-383695.

Stephan A. Jansen, Martha Wanat: Bewegt Euch. Selber! Wie wir unsere Mobilität für gesunde und klimaneutrale Städte neu erfinden können. Hanser-Verlag München 2022. Gebunden, 330 Seiten, zahlreiche s/w-Abbildungen, 29,99 Euro, ISBN 978-3-446-46973-0

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Der Mai ist gekommen, der Friede leider nicht

Im Mai gibt es mal keine Rezensionen, sondern Reflektionen. Denn leider ist wegen des Ukraine-Krieges das Nachhaltigkeitsthema weit in den Hintergrund gerückt.
Statt dessen werden in dem geplagten Land massenweise verbaute Ressourcen zertrümmert – der perfekte Schritt zu mehr Entropie. Wer soll das eigentlich mit was alles wieder aufbauen, wenn schon der Sand für den Beton knapp wird? Oder soll die Ukraine zum Testlabor für Baurecycling werden?
Da der Umstieg auf Erneuerbare bei uns dank nimmermüden Industrie-Lobbyismus und einer willfährigen Regierung um ganze zehn Jahre nach hinten geschoben wurde, stehen wir jetzt vor dem Dilemma, schneller umrüsten zu müssen, es aber nicht zu können. Denn gerade jetzt sind die Handwerker nicht mehr da (die sich nach dem Abschmelzen der EE-Vergütungen nicht mehr motiviert sahen, diesen Geschäft zu forcieren), die Rohstoffe fehlen (da sie vorwiegend in Russland und Fernost produziert werden), in der PV stehen die Produktionskapazitäten vor allem in Fenost (da sie bei uns in den 2010er Jahren dank politisch gewollter Solarkrise abgebaut wurden) und die Bau- und Genehmigungsgesetze wurden viel zu spät der Dringlichkeit des Ausbaus angepasst (da sie ja ansonsten tatsächlich einen schnellen Umbau ermöglicht hätten).
Zu allem Überfluss fehlen nach wie vor Recycling-Technologien für die meisten seltenen Erden. Doch diese Stoffe sind noch immer unentbehrlich, um beispielsweise starke Elektromotoren zu bauen.
Außerdem deutet sich jetzt an, dass wir zwar weiter dringend viel Fleisch essen wollen, die Anbauflächen aber nun wirklich für Getreide für den menschlichen Verzehr brauchen, weil die Ukraine ausfällt. Leider können wir die Flächen aber nicht so schnell aktivieren, denn der Naturschutz steht im Wege. Den Naturschutz brauchen wir aber blöderweise, weil uns sonst die Insekten sterben und die Artenvielfalt und damit am Ende die Nahrungskette (die vor allem zu uns führt) komplett zusammenbricht. Gleichzeitig degradieren die Böden weltweit.
Auch der angestrebte Umstieg von Menschen und Transporten auf die umweltfreundlichere Bahn kann erst wirklich bewerkstelligt werden, war heute morgen im Online-Spiegel zu erfahren, wenn das deutsche Kern-Bahnnetz, sprich die ICE-Strecken, kernsaniert wurde. Das werde, so hieß es, mit Streckensperrungen, Zugausfällen, weiten Umleitungen etc. gepflastert sein. Man kann sich vorstellen, dass dann viele, die bislang die Bahn benutzt haben, aus blanker Not auf Flug, Auto oder Videokonferenz (hoffentlich!) umsteigen, bis das mehrjährige verkehrstechnische „Tal der Tränen“ (spiegel.de) durchschritten ist. Ob sie wieer zurückkommen, steht in den Sternen.
Derweil mahnt mal die WMO (World Meteorological Organization), mal das IPPCC, mal irgendjemand anders vor dem sich beschleunigenden Klimawandel. Sofortiges Handeln sei nun aber wirklich unabdingbar. Nur passieren tut außer der zigsten Verlautbarung bislang wenig. Lediglich die Preise für Energie steigen, diesmal ganz ohne Kohlendioxidabgabe. Weil das die Konsumgesellschaft auf anderen Sektoren einschränkt, da man Geld nun mal nur einmal ausgeben kann, fürchtet die Politik, das wirtschaftliche Getriebe können ins Stottern und die Gesellschaft aus dem Gleichgewicht geraten, was wiederum alle anderen Erneuerungsvorhaben beeinträchtigen würde.
Der perfekte Sturm!
Mal gucken, wie es in diesem Gruselfilm weitergeht!
Ich nehme jedenfalls an, langweilig wird es in den nächsten Jahren bestimmt nicht. Dafür aber wahrscheinlich ungemütlich.

Falscher Film?? Angriffskrieg, Abschreckung, Aufstieg in China und Städte

Derzeit glaube ich oft, ich bin im falschen Film. Wenn ich mich an das Ende des vergangenen Jahres erinnere, dann kommt es mir vor, als wäre ich in einem besonders schlechten, vollkommen überzogenen Katastrophenfilm gelandet: Angriffskrieg in Europa, explodierende Energie- und Lebensmittelpreise, drohende Hungersnot in Afrika, Covid-19 und ein Bundestag, der selbst milde Formen der Impfpflicht niederstimmt, dazu immer mehr Klimawandel. Oder wie man früher die Geißeln der Menschheit nannte: Hunger, Dürre, Krieg und Pestilenz.

Wie die meisten Angehörigen meiner Generation habe ich mich bislang in Westeuropa zumindest nach dem Fall des Eisernen Vorhangs 1989 relativ sicher gefühlt und geglaubt, es würde ohne Waffen schon gehen. Nicht so genau hingeguckt, was „da im Osten“ (Moldau, Georgien, Tschetschenien) so passierte. Das war ja so weit weg. Auch die Eroberung der Krim durch Russland hat mich (und wahrscheinlich viele mit mir) nicht wirklich aufgeschreckt, nur ein bisschen, immerhin ist München Partnerstadt von Kiew, und ich kenne ein paar Leute von dort flüchtig über meinen Chor. Warum sollte man sich von einem Land, Russland, bedroht fühlen, das uns doch immerzu zuverlässig Öl, Gas und Kohle liefert, auch wenn die Regierenden (und wohl auch beträchtliche Teile der Bevölkerung) des Landes ansonsten ziemlich unterschiedliche Vorstellungen haben als „wir“ (was immer das sein mag) und sowieso ständig das Ende des fossilen Zeitalters ausgerufen wird?

So kann man sich irren. Die komplett geänderte Situation durch den Ukraine-Krieg legt nun also nahe, sich über Dinge wie Bunkerbau, Investitionen in Rüstungsgüter und so weiter Gedanken zu machen. Denn wer weiß, was die nächste Ukraine ist. Also habe ich mir ein 2021 erstmals erschienenes Werk mit dem Titel „Future War“ aus dem Langen-MüllerVerlag bestellt. Geschrieben haben es drei erfahrene amerikanische Militärstrategen.

Das Buch beginnt (nach ausführlichen Vorwörtern, unter anderem von Klaus Naumann, General a.D.) mit einem Szenario: Russland greift in Nordeuropa an, es gibt gleichzeitig eine Seuche und Westeuropa kann sich nicht ausreichend gut verteidigen. Es muss um Frieden bitten und wird in der Zukunft zu einer demilitarisierten Zone unter sowjetischem Einfluss. Das Ganze wird im Jahr 2030 verortet. Wie schnell solche Szenarien veralten…

Es folgen ausführliche strategische Analysen. Sie sollen vor allem zeigen, dass Europa sich in den vergangenen Jahrzehnten mental irgendwo zwischen Taka-Tuka-Land und einem sicherheitspolitischen Wolkenkuckucksheim befunden hat, und zwar vorwiegend zum eigenen materiellen Vorteil. Schließlich musste man nicht so viel in Verteidigung und Rüstung investieren, so lange das die USA tun. Nun stehe Europa ohne wirksame Verteidigung da, schimpfen die Autoren, und die USA müsse sich sowohl mit Chinas Expansionsgelüsten als auch mit Europas Verteidigungslücken auseinandersetzen, was schlicht zu viel sei, lautet das Fazit dieser Überlegungen. Deshalb müssten die Europäer mehr tun.

Dann kommt eine Passage, die mich wirklich erschüttert hat. Sie bezieht sich auf einen potentiellen Angriff Russlands an einer der europäischen Schwachstellen (der hat ja nun schon stattgefunden): „Russland hätte (mit dem skizzierten Angriff, Anm. d.Aut.) das Bündnis (die NATO) vor vollendete Tatsachen gestellt, vielleicht in den baltischen Staaten, vielleicht aber auch in der Schwarzmeer-Region (sic!, Anm. d. Aut.). Wären die europäischen NATO-Staaten unter solchen Umständen bereit, zur Befreiung ihrer Verbündeten in einen Krieg gegen das atomar bewaffnete Russland zu ziehen? Wenn ja, dann im Bewusstsein, einen Atomkrieg zu riskieren. Wenn nein, wäre die NATO tot, die EU geschwächt und die transatlantischen Beziehungen zerbrochen.“

Ob letzteres, also das Zerbrechen der transatlantischen Beziehungen, geschehen wird oder schon geschieht, darf im Moment getrost bezweifelt werden. Immerhin haben die USA und auch viele europäische Länder einiges an Waffen und Geld auf den Weg gebracht, viele Länder nehmen viele Flüchtlinge auf, insbesondere Polen, und die Ukrainer entpuppen sich als wehrhaft und fester als je entschlossen, ihre Freiheit zu verteidigen. Und damit wohl auch unsere.

Dennoch haben die Strategen bezüglich des europäischen Verhaltens mehr oder weniger ins Schwarze getroffen, nur dass der russische Angriff ein knappes Jahrzehnt früher eingetroffen ist als sie es prognostizieren. Und dass die russischen Kräfte sich eines leichten Sieges wohl zu gewiss waren.

Außerdem gelangen Gräueltaten, wie man das Wüten einer entfesselten Soldateska nennt, heute schneller an die Öffentlichkeit. Das gilt selbstverständlich auch für die, die Amerika in Abu Ghareib begangen hat – mit dem Unterschied, dass die Verantwortlichen hier wenigstens zur Rechenschaft gezogen wurden.

Das Buch beschreibt auch, was geschehen müsste (oder hätte geschehen müssen?), um russische Angriffe auf mittel- und südosteuropäische Länder unwahrscheinlicher zu machen (falls es jetzt gemeinsam gelingen sollte, eine größere militärische Auseinandersetzung in ganz Europa oder weltweit abzuwenden). Gefallen werden die Rezepte niemandem, doch nachdem alle FriedensfreundInnen, mich eingeschlossen, dermaßen auf dem Holzweg waren, scheint es mir angemessen, den eigenen Hirnkasten zur Abwechselung den Einsichten der westlichen Militärs zu öffnen und dann neu nachzudenken.

Future War ist eine Anregung dazu, auch wenn das Lesen nervt, weil sich kaum jemand mit Abschreckung, Krieg und Waffengattungen oder Militärstrategie beschäftigt und sich die fremde Materie, abgesehen davon, dass sie erschreckend ist, nicht ohne Weiteres erschließt. Vor allem nicht, wenn man am Frieden hängt.

Julian Lindley-French, John R. Allen, Frederick Ben Hodges: Future Wars. Bedrohung und Verteidigung Europas. Langen-Müller-Verlag, München, 2. Auflage 2022. Gebunden, 408 Seiten, ausführliches Anmerkungs-, Literatur- und Personenverzeichnis. ISBN 978-3-7844-3579-4, 34 Euro.

Ein chinesischer Aufsteiger berichtet

Eine passende Ergänzung ist „Chinesisches Roulette“ von Desmond Chum, einem der großen Aufsteiger des modernen China. Das Buch befasst sich mit seiner der Lebens- und Aufstiegsgeschichte, ist also eine Autobiografie. Shum wuchs als einziges Kind eines Vaters aus der ehemaligen „Grundbesitzersklasse“ im maoistischen China auf. Deshalb war seine Familie diskreditiert und sein Vater versuchte, sich lebenslang unauffällig zu verhalten, um nicht sanktioniert zu werden. In diesem Sinn erzog seinen Sohn, der auch reichlich Prügel bekam.

Shum entwickelte erheblichen Ehrgeiz, studierte in den USA, schloss dort lebenslange Freundschaften und vermeintlich tragfähige Geschäftsbeziehungen, kehrte nach China zurück und scheiterte bei seinen ersten geschäftlichen Bestrebungen. Denn er gehörte nicht zur chinesischen Polit-Aristokratie, weshalb sich ihm die nötigen Türen nicht öffneten.

Dann lernte er eine Frau mit ausgezeichneten Relationen zur obersten chinesischen Funktionärskaste kennen, die beiden beschlossen, ein Gespann zu Aufstiegszwecken zu bilden, und heirateten, wobei Frau Shum nach den Worten des Autors stets der Motor dieses Aufstiegs war, weil sie die besseren Beziehungen hatten. Gemeinsam gelangen dem Ehepaar, was es sich vorgenommen hatte: Es entwickelte das Konzept von Sonderwirtschaftszonen rund um Flughäfen und setzte diese um – einschließlich der Vertreibung ganzer Dörfer für den Fortschritt (der Kohleabbau hierzulande lässt grüßen). Am Ende allerdings scheiterte die Ehe an der fehlenden emotionalen Basis und daran, dass Herr Shum lieber selber die Zügel in die Hand nehmen wollte. Später zog sich Frau Shum das Missfallen der Regierung zu. Sie wurde von dieser mit unbekanntem Verbleib aus dem Verkehr gezogen.

Shum verließ daraufhin fluchtartig mit seinem Sohn das Land und schrieb sein Buch, das in Deutschland bei Droemer erschienen ist. Man erfährt, wie (in seinem, wahrscheinlich aber nicht nur in seinem Fall) Aufstieg in China funktioniert: durch hemmungsloses Umschmeicheln der herrschenden Funktionäre bis hin zu Praktiken, die man hierzulande schlicht als Bestechung brandmarken würde. Allerdings geht es in Fußballverbänden und einigen anderen Bereichen bei uns wohl nur graduell besser zu.

Shums Kritik richtet sich vor allem gegen die Klientel- und Vetternwirtschaft in China sowie den fehlenden Respekt vor Grund- und Freiheitsrechten der Menschen bis dahin, Leute, die irgendwie nicht mehr in die Landschaft passen, hinter Schloss und Riegel zu verbringen oder sonstwie in deren Freiheit einzugreifen. Gleichzeitig offenbart Shum ein ungebrochenes Verhältnis zu Wachstum und kapitalistischem Wirtschaften, auch damit ist er sicher unter den chinesischen Aufsteigern keine Ausnahme.

Hierzulande scheint es merkwürdig, dass globale Probleme wie Ressourcenknappheit und Klimawandel, denen sich auch China gegenübersieht, in dem Buch nicht einmal in einem Halbsatz auftauchen. Shum ist durchaus nationalistisch und in diesem Punkt eins mit der Führung seines Landes. Was man aus dem Buch auf jeden Fall lernt, ist, dass China unbedingt eine Umverteilung der weltweiten Machtstrukturen anstrebt und dass Chinas Wirtschafts- und Politfürsten vom Segen und der Berechtigung ihrer eigenen Vorgehensweisen zutiefst überzeugt sind. Das lässt nichts Gutes ahnen, wenn man bedenkt, wie viele Vorprodukte und Rohstoffe wir von dort beziehen.

Desmond Shum: Chinesisches Roulette. Ein Ex-Mitglied der roten Milliardärskaste packt aus. Droemer-Verlag Februar 2022. Gebunden, 300 Seiten. 22 Euro, ISBN 978-3-426-27878-9

Jahrbuch Ökologie: Städte im Mittelpunkt

Nun noch zu einem vergleichsweise harmlosen Thema: Auch 2022 ist wie jedes Jahr ein Jahrbuch Ökologie erschienen. Diesmal widmet sich die umfangreiche Publikation den Städten als entscheidender Kraft im Anthropozän. Schließlich lebt dort für alle vorhersehbare Zukunft die Mehrheit der Menschen auf der Erde.

Das über 340 Seiten lange Buch gliedert sich in fünf Abschnitte. Am Anfang steht eine Einleitung zur Rolle der Städte im Anthropozän im Allgemeinen. Sie beschreibt beispielsweise den Grad der Bevölkerungskonzentration in Städten und andere Grundfaktoren.

Es folgt ein Abschnitt, der grundsätzliche Probleme und Chancen von Städten heute analysiert. Hier geht es um eine Definition von Stadt, den ökologischen Stadtumbau, Änderungsbedarf in Stadtentwicklung und Architektur, die Rolle von Städten beim Klimaschutz, die Bezüge von Städten zu den sie umgebenden Regionen und die transformative Kraft von Städten. Schließlich wird die New Urban Agenda für nachhaltige Stadtentwicklung thematisiert.

Anschließend geht es um ökologische Warnsignale, die sich in Städten bemerkbar machen: Massiver Energie- und Materialverbrauch, Hitzeglocken, Abfallberge, Dauerstau, Lichtverschmutzung und so weiter.

Dann werden städtische Ansätze zu mehr Nachhaltigkeit präsentiert. Hier geht es um eine ökologische Vision von Stadt, eine gemeinsame Perspektive von Umweltschützern und Stadtplanern, städtische Transformation samt der dafür nötigen kreativen Prozesse, die Rolle der Digitalisierung, das Spannungsfeld zwischen Nachhaltigkeit und Wohnungsbau, den nötigen Infrastrukturumbau, die Sinnhaftigkeit lokaler Autonomie und alternative Mobilitätsoptionen wie das Fahrrad.

Der letzte Abschnitt schließlich wird sehr konkret und ist daher besonders interessant zu lesen: Er liefert in Form einzelner Städteporträts zahlreiche Beispiele dafür, wie viel und was Städte aus dem In- und Ausland für Umweltschutz und Nachhaltigkeit tun oder eben nicht tun. Außerdem kann man dort auszugsweise die Agenda 2030 und die New Urban Agenda nachlesen.

Leider lesen sich die Beiträge oft so, als wären sie Sekundärverwertungen von anderswo gehaltenen Kongressbeiträgen. Die Texte enthalten teils viel Redundanz zu anderen Texten in dem Buch. Die Sprache kommt häufig als gestelztes Amtsdeutsch daher. Eine stilistisch-formale Vereinheitlichung oder Glättung war offensichtlich in dem Reader nicht angestrebt, was den Lesegenuss empfindlich beeinträchtigt. Dennoch dürfte das Buch für Menschen, die in der Stadtplanung, Stadtverwaltung oder Kommunalpolitik tätig sind, nützlich sein.

Heike Leitschuh u.a. (Hrsg.): Jahrbuch Ökologie 2022: Das Zeitalter der Städte. Die entscheidende Kraft im Anthropozän. Hirzel-Verlag Stuttgart 2022. Broschiert, 344 Seiten, diverse farbige Abbildungen. 24 Euro, ISBN 978-3-7776-3032-8