Und schon ist es November. Bis gestern war es mehr als 20 Grad mehr, das ist schon unheimlich. Heute sieht es aber richtig novemberig aus. Hilft aber nichts. Der erste Monitoringbericht über die deutschen Bemühungen, bis 2030 ausreichend Kohlendioxid einzusparen, um das 1,5-Grad-Ziel zu erreichen, hat ein schlichtes Ergebnis: Die bisherigen Bemühungen reichen nicht. Was anderes erwartet? Wohl kaum.
Denn statt sich mit dem unaufhaltsam voranschreitenden Klimawandel zu beschäftigten, hat die europäische Welt im Moment vor allem damit zu tun, die Auswirkungen von Putins Angriff auf die Ukraine irgendwie zu handhaben, einschließlich Gaspreisbremse, LNG-Terminals und Weiterbetrieb der Atomanlagen.
Russland von innen
Wer gern mal etwas mehr darüber wissen will, wie Russland von innen tickt und was die außerparlamentarische Opposition, namentlich die Anhänger von Alexei Nawalny darüber denken, dem sei das Buch „Putinland“ des Nawalny-Vertrauten Leonid Wolkow, erschienen bei Droemer, empfohlen. In dem Buch beschreibt Wolkow, wie Putin in den Neunzigern seine Macht ausbaute, wie die innerrussische Widerstandsbewegung um Nawalny entstand, wie sie arbeitet, welche Erfolge sie hatte und was es bedeutet, dass ihr Anführer im Straflager sitzt. Man erfährt, wie das russische Regime im Allgemeinen mit Meinungsabweichlern umgeht, erfährt aus einer anderen Perspektive, was beim Giftanschlag auf Nawalny geschah und warum er trotzdem nach Russland zurückkehrte. Wolkow hat die Hoffnung, dass der „Putinismus“ nach Putin zerfällt, und dass das Land nach einer Phase des Chaos sich wieder auf den Weg nach Europa machen wird. Schön wäre es.
Vielleicht würde dann dem Klimawandel wieder mehr Aufmerksamkeit geschenkt, was absolut wünschenswert wäre, wenn unsere Enkel hier noch etwas Spaß haben sollen.
Das Letzte von der Letzten Generation
Derweil ist die erste Frau gestorben, weil der Rettungswagen nicht durchkam. Das wiederum einer Fahrbahn-Klebeaktion der „Letzten Generation“ und habe auch an der Handhabung dieses Umstands gelegen – siehe Pressemitteilung. So sehr ich finde, dass ein Tempolimit auf deutschen Autobahnen eigentlich keine politische Frage mehr sein sollte, sondern eine des gesunden Menschenverstandes (warum soll bei uns nicht funktionieren, was überall auf der Welt funktioniert), so wenig halte ich das Festkleben auf Fahrbahnen für hilfreich.
Gleichzeitig finde ich die Wut der „Letzten Generation“ sehr verständlich, und die Frage ist, wie diese Gruppe, aber auch andere, denen es ähnlich geht, ihren Frust wirksam ausdrücken können, ohne dass es tödliche Folgen zeitigt. Denn ich zweifle nicht, dass noch aus vielen Ohren jede Menge Schmalz zu entfernen ist, bevor die Nachricht von den schleunigst nötigen Veränderungen bei gesellschaftlichen und individuellen Verhaltensweisen in der wünschenswerten Klarheit auf breiter Front in die Gehirne vordringt. Denn solche Nachrichten sind selten angenehm, sobald es darum geht, jedem und jeder auch persönliche Veränderungen abzuverlangen, die unbequem sind (Nicht mehr ferienfliegen? Kein Grillwürstchen?) . Ich habe dafür keine Lösung. Leider.
Der Mensch als Konglomerat von Lebewesen
Vorschläge, wie man das bisherige Wirtschafts- und Wachstumsmodell durch natur- und menschenverträglichere Verhaltens- und Wirtschaftsweisen ablösen kann, gibt es viele. Einen weiteren hat jüngst Jeremy Rifkin mit „Das Zeitalter der Resilienz“ veröffentlicht.
Rifkin beginnt damit, einen Schlüsselbegriff unserer Zeit, nämlich Effizienz, neben einen Schlüsselbegriff der Naturwissenschaften, nämlich Entropie, zu stellen und kommt zu dem Schluss: Je mehr technische Effizienz, desto höher die Entropie. Und natürlich erklärt Rifkin auch, was Entropie überhaupt ist, nämlich der natürliche Drang der Dinge, sich dem niedrigsten Organisations- und Energiezustand anzunähern. Sprich: zu zerfallen. Statt Effizienz der Produktionsprozesse in den Mittelpunkt zu stellen, müsse es zukünftig vor allem um Resilienz gehen, also um unsere Fähigkeit, Entropie möglichst gering zu halten.
Dann beschreibt Rifkin, wie der Mensch sich die Erde unterworfen hat (Landwirtschaft, Bergbau, Kolonialismus, andere extraktive Praktiken), immer aus der Perspektive, dass es sich bei der Umwelt um kein gleichwertiges Gegenüber, sondern um ein beliebig nutzbares Objekt handelt.
Im dritten großen Abschnitt erklärt Rifkin, wie intensiv Menschen (und alle Lebewesen) zur sie umgebenden Natur gehören, statt sich gegenüberzustehen, wie sich Natur und Mensch wechselseitig durchdringen. Dabei erklärt er dem individualistischen Prinzip, also der Theorie vom autonomen Individuum, den Krieg. Menschen seien schon deshalb nicht autonom, weil sie etwa zur Hälfte nicht aus menschlichen Zellen, sondern aus Bakterien oder Viren bestehen. Sie sind also ein Konglomerat aus allen möglichen Lebewesen, dessen hoher Organisationsgrad gegen den Drang zur Entropie nur durch die ständige Zufuhr von Energie aufrecht erhalten wird. Und wie der Mensch als spezifische Ansammlung von Lebensformen funktioniere, wisse man auch noch nicht genau – siehe das Darmbiom, dessen Funktionieren gerade erst erforscht wird. Insofern seien Menschen und überhaupt alle lebenden Wesen dissipative Strukturen, die sich in einem ständig wechselnden Fließgleichgewicht mit ihrer Umgebung befinden. Zerstören sie ihre Umgebung, zerstören sie so nutwendigerweise sich selbst.
Dann kommt Rifkin zum wissenschaftlich wohl anfechtbarsten Teil seiner Überlegungen, nämlich zum Abschied von der Darwinschen Vorstellung, allein die Gene steuerten, wie ein Lebewesen sich entwickelt. Erstens sei der menschliche Organismus über biologische Taktgeber im Gehirn auf bestimmte zeitliche Muster geeicht. EInige davon sind mit der Außenwelt koordiniert, und dies geschieht, so Rifkin, über elektromagnetische Felder, etwa das Erdmagnetfeld. Diese Befunde sind gut belegt, für die Entdeckung biologischer Uhren im Gehirn wurden sogar schon Nobelpreise verliehen. Dann aber wird es partiell spekulativ: Auch bei der Embryonalentwicklung sieht Rifkin unter Berufung auf einige wenige Studien elektromagnetische Felder am Werk, die mitentscheiden, wie sich die Gene des jeweiligen Individuums am Ende umsetzen. Rifkin betrachtet elektromagnetische Felder als universelle Lebensarchitekten. Wie genau diese Steuerung vonstatten gehen soll, sagt er nicht, und anscheinend gibt es dazu auch noch keine ausformulierte wissenschaftliche Theorie, sondern höchstens ein paar experimentelle Befunde. Die vermeintlich sicheren Erkenntnisse ohne schlüssige Theorie dahinter werden heute in erster Linie von halbseidenen Heilunternehmern dazu genutzt, medizintechnische Hilfsmittel mit teils zweifelhaftem Nutzen teuer zu verkaufen. Hier bewegt sich also Rifkin weg vom gesicherten wissenschaftlichen Konsens, was schade ist und dafür, seine These vom Menschen als dissipativer Struktur zu belegen, auch gar nicht notwendig.
Im letzten Abschnitt wird es wieder greifbarer. Hier geht es nämlich darum, was die neue Sicht der Dinge (der Mensch als im Fluss befindlicher Teil der Natur, der mit ihr vielfältig bis in den Körper hinein unauflöslich verschränkt ist) für Wirtschaft, Gesellschaft und Nachhaltigkeit bedeutet. Nämlich das Ende des globalen Kapitalismus, bioregionale Wirtschaftskreisläufe und viel stärker partizipationsorientierte Demokratiemodelle. Mag man das nun bejahen oder nicht, lesenswert ist das Buch auf jeden Fall, schon allein, um mitdiskutieren zu können. Immerhin hat Rifkin damit einen New-York-Times-Bestseller gelandet.
Absurde Fragen korrekt beantwortet
Diejenigen, denen das alles zu ungemütlich ist, können sich mit Band zwei des Bestsellers „What if?“ in andere Sphären katapultieren lassen. Mögen kann man das Buch nur, wenn es einem nichts ausmacht, dass es hier keine fortlaufende Handlung oder Erklärung gibt, sondern relativ unverbunden nebeneinander stehende Fragen aus dem großen Bereich der Naturwissenschaften, vor allem der Physik gestellt und so gut es geht beantwortet werden.
Und zwar absurde, hypothetische Fragen wie die, wie lange es dauern würde, auf einer Rutschstange zwischen Erde und Mond von da nach dort zu gelangen. Diese werden dann ernsthaft und nach dem aktuellen physikalischen Wissen beantwortet. Gewürzt sind die Antworten mit kleinen Zeichnungen, die das Ganze humorig auflockern. Am interessantesten fand ich das Spiel mit den Dimensionen, das so charakteristisch für die Physik ist. Sie vermisst und berechnet ja wirklich buchstäblich alles: vom atomaren Bruchteil bis zum Galaxienhaufen am Ende der Milchstraße. Dabei arbeitet sie mit Zehnerpotenzen und Maßstabsvergleichen, denn unser Hirn ist fürs Exponentiale nicht gebaut. Schade eigentlich, sonst würden wir wahrscheinlich viel besser begreifen, was ein exponentieller Anstieg von irgendwas tatsächlich bedeutet und endlich mehr tun, um die planetare Überhitzung durch unsere Aktivitäten endlich durch ein angepasstes Verhalten abzumildern oder irgendwann umzukehren.
Bibliographie: Leonid Wolkow: Putinland. Der imperiale Wahn, die russische Opposition und die Verblendung des Westens. 1. Auflage, Droemer, München 2022. Gebunden, 232 Seiten. ISBN 978-3-426-27899-4, 22 Euro.
Jeremy Rifkin: Das Zeitalter der Resilienz. Leben und denken auf einer wilden Erde. 1. Auflage, Campus-Verlag, Frankfurt 2022. Gebunden, 359 Seiten, ausführliches Fußnoten- und Stichwortverzeichnis. ISBN 978-3-593-50664-7, 32 Euro.
Randall Munroe: What if? 2 Was wäre wenn? Weitere wirklich wissenschaftliche Antworten auf absurde hypothetische Fragen. 1. Auflage, Penguin-Verlag, München. Mit Stickerbogen und zahlreichen s/w-Zeichnungen. Broschiert, 410 Seiten. ISBN 978-3-328-60093-0, 18 Euro.
Übrigens: Bücher kauft man in der Buchhandlung um die Ecke! Die ist persönlich da, schafft Arbeitsplätze und erhöht die Lebensqualität des Viertels.
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