Oft ist von Autonomie die Rede, aber was ist damit eigentlich gemeint? Und was bedeutet diese Fähigkeit in der digitalen Gesellschaft? Bieten uns Facebook, Google und Co. mehr Autonomie oder weniger? Mit Begrifflichkeit, Rolle und Entwicklung der Autonomie beschäftigt sich auf sehr grundlegende Weise das neue Buch des Soziologen Harald Welzer und des Philosophen Harald Pauen. Sie definieren – anhand mehrerer Beispiele von Personen aus sehr unterschiedlichen Bereichen – was Autonomie überhaupt ist. Nämlich die Fähigkeit, auch unter (Konformitäts)druck eigenständig, dh., unter Umständen abweichend von der Mehrheitsmeinung und auch unter Risiko, der eigenen Überzeugung entsprechend zu handeln.
Pauen und Welzer machen Schluss mit der Vorstellung, Autonomie sei vor allem eine Frage der Persönlichkeit. Anhand der gelegentlich sehr verstörenden Ergebnisse moderner sozialpsychologischer Forschung wie dem Milgram- und ähnlichen Experimenten belegen sie, dass Autonomie einzelner Personen oder Gruppen vor allem das Produkt förderlicher sozialer Umstände ist, keine Charakterfrage. Außerdem erörtern sie nicht nur die möglichen Vorteile autonomer Entscheidungen, sondern auch ihre möglichen Nachteile – schließlich kann schlimmstenfalls, wer sich dem Konsens entzieht, auch einmal schrecklich daneben liegen. Demokratieförderlich, so die Autoren, sei eine politische und gesellschaftliche Struktur, die Diskursprozesse fördere und dem einzelnen ausreichende Freiräume eröffne, um unsanktioniert sich eine eigenständige Meinung zu bilden und sich ihr entsprechend zu verhalten.
Hier kommen die sozialen Medien ins Spiel. Diese sehen die Autoren gerade in Hinblick auf die Autonomiefähigkeit der Menschen, sehr kritisch. Sie verengten, so argumentieren die beiden Autoren, durch den maschinell hergestellten unreflektierten Konsensprozess das Möglichkeitsspektrum (Suchalgorithmen finden idR das, was dem ähnelt, was man vorher schon gesucht hat, bestätigen also das Individuum in dessen vorgefertigten Meinungen). Die überall geforderte und häufig auf Plattformen wie Facebook auch bis zur Unterhosenmarke gepflegte Transparenz beseitige ehemals vorhandene geschützte, weil eben nicht allen bekannte Diskursräume, in denen sich abweichende Meinungen überhaupt erst bilden könnten. Soziale Medien wie Twitter taugten zwar dazu, kurzfristige Hypes zu erzeugen, nicht jedoch dazu, neue, langfristig tragfähige Strukturen im Sozialen aufzubauen. Dies zeige der sogenannte arabische Frühling, der zwar über soziale Medien forciert wurde, dann allerdings nicht in eine tragfähige neue soziale Ordnung mündete, weil, so die Autoren, dazu eben mehr nötig sei als das Verbreiten von 140-Zeichen-Meldungen, nämlich die gemeinsame, langfristige und durch enge persönliche Beziehungen unterfütterte Arbeit. Das massenweise Abschöpfen von Nutzerdaten aus „kostenlosen“ sozialen Netzwerken und Suchmaschinen sowie deren exzessive Auswertung und Nutzung zum Zweck von Marketing, Vertrieb und Produktdesign trage ebenfalls zur Verengung persönlicher Spielräume bei. Beispiele kommen heute etwa aus dem Versicherungs- oder Kreditwesen, wo Datenspuren schon heute ausreichen, um die Konditionen gravierend zu beeinflussen, zu denen ein Individuum abschließen kann.
Dass Pauen und Welzer die schöne neue Welt der kostenlosen Internet-Dienste als nicht förderlich fürs gesellschaftliche Miteinander erachten, macht besonders das letzte Kapitel deutlich. Es umfasst zehn Ratschläge zur Bewahrung der persönlichen Autonomie , aus denen hier einige Sätze zitiert werden sollen: „Verkaufen Sie niemals persönliche Souveränität für monetäre Vorteile. Üben Sie digitale Askese, wo immer es geht. Soziale Netzwerke… sind Produktionsstätten von informationeller Macht über Sie. Glauben Sie niemals, dass der annoncierte Vorteil einer technischen Innovation für Sie von Vorteil ist.“
Technoskeptiker findet hier wirksame Argumente gegen das allgegenwärtige Gerede über die unvermeidlichen und unabwendbaren Segnungen des Big Data-, Industrie 4.0- und Mobilzeitalters. Und wer optimistischer hinsichtlich des gesellschaftlichen Nutzens digitaler Technologien ist (zum Beispiel optimistisch genug, um irgendwie auf die Rezension dieses Buches auf meinem Blog gestoßen zu sein), kann testen, ob und welche der eigenen Überzeugungen auch einem kräftigen Gegen-den-Strich-Bürsten standhalten.
Bibliographie: Michael Pauen, Harald Welzer: Autonomie. Eine Verteidigung. S. Fischer Verlag, Frankfurt, 2015. Gebunden, 327 Seiten, Lesebändchen, Literatur- und Stichwortverzeichnis. ISBN978-3-10-002250-9, 19,99 Euro

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