Im August: Selbstbewegung gegen Drei Grad Plus

Im Moment dreht sich alles darum, ob nun Kohle, Atom oder Einsparungen das fehlende Gas ersetzen sollen. Das stimmt angesichts der klimatischen Lage der Welt nicht gerade optimistisch. Immerhin scheinen die verheerenden Waldbrände, Trockenheiten etc. zumindest anderswo langsam so etwas wie Erkenntnis reifen zu lassen, so kann man jedenfalls hier nachlesen. Und ob diesen Erkenntnissen Taten folgen, steht noch lange nicht fest. Bekanntlich schert die meisten ihr Gewäsch von gestern eher nicht so viel.

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Zusätzlich zu den Hiobsbotschaften noch zwei Rezensionen. Das erste ist einer der vielen Weckrufe, die hoffen, die Menschheit doch noch zu schnellem Handeln zu bewegen. Herausgeber Klaus Wiegandt vom Forum für Verantwortung hat namhafte Klimaforscher zusammengeholt und schon zwei Anläufe unternommen, die im Buch enthaltenen Fakten und Ideen einer breiten Öffentlichkeit zugänglicher zu machen. Doch einmal kam Corona dazwischen, und nun der Ukraine-Krieg, der die Medien dominiert und wahrscheinlich derzeit auch das Denken der meisten Menschen. Wenn sie nicht gerade über die wahrscheinlich klimawandelbedingte Trockenheit sinnieren, die derzeit die Ernten verwüstet und Gewässer austrocknen lässt.

Was steht nun in „3 Grad mehr“, das sich übrigens zum Spiegel-Bestseller entwickelte. (Leider erfährt man nicht, welche Verkaufszahlen hinter dieser Bezeichnung stehen.) Jedenfalls: Die Autoren legen dar, was es für uns und für den Rest der Welt bedeutet, wenn wir ungebremst auf dem aktuellen Pfad fortschreiten. Sie legen dabei die Schlussfolgerungen des aktuellen Berichts des Weltklimarates zugrunde und verknüpfen zudem Klimafolgen und Artensterben zur Perspektive eines perfekten GAU für die Biosphäre, uns eingeschlossen. Dabei sehen sich die Autoren auch die Folgen für Deutschland und die Weltwirtschaft an. Und weisen darauf hin, dass sich die Kosten des Kampfes gegen und der Anpassung an den Klimawandel gegenüber dem Stern-Report Anfang des Jahrtausends schon erheblich erhöht haben. Jüngste Schätzungen liefert Deloitte in einem aktuellen Report. Die Zahlen sind so groß, dass ich sie kaum noch begreife.

Nach diesem ersten, rund 120 Seiten langen Teil folgt der zweite, etwas längere (immerhin) der sich mit möglichen Lösungen der Klima- und Artenschutz-Herausforderung befasst. Soviel vorweg: Mit sehr guten Argumenten legen die Autoren dar, dass weder Digital- noch Erneuerbaren-Technik allein reichen wird, uns auf eine nachhaltige Entwicklungslinie zu bringen. Natürlich braucht man sie auch, das ist eben nicht genug. Schon allein deswegen, weil möglicherweise die Rohstoffe nicht reichen, um die ganze Welt auf megawattstarke Windturbinen mit Tonnen an verbautem Stahl und Beton oder Photovoltaik umzustellen. Vielmehr seien, so die Autoren, neben Technologie sogenannte biobasierte Lösungen notwendig.

Was ist unter biobasierten Lösungen zu verstehen? Lösungen, die an der Natur ansetzen und ihr helfen sollen, ihre für uns überlebenswichtigen Funktionen weiter zu erfüllen. In allererster Linie ein sofortiger Stopp der Waldvernichtung überall, besonders in den Tropen, und den Artenschutz berücksichtigende Formen der Aufforstung, und zwar nicht mit Palmölplantagen, dort und anderswo. Machen wir das nicht, emittiert der Wald in Zukunft Kohlendioxid, statt es zu speichern. Das mit der Zeit gewonnene Holz (denn Nutzung soll es selbstverständlich geben, nur anders) soll in langlebige, moderne Gebäude, Möbel und andere Gebrauchsgegenstände aus Holz eingebaut werden, um das darin enthaltene Kohlendioxid so der Atmosphäre zu entziehen.  Zweitens brauche man schnellstens eine Wiedervernässung aller Moorflächen, wobei diese dann massiv Kohlenstoff binden, aber dann mit speziellen landwirtschaftlichen Praktiken, sogenannten Paludikulturen, auch nass bewirtschaftet werden können. Drittens sollen alle Möglichkeiten, den Boden ohne synthetischen Dünger zu verbessern, ergriffen werden. Als besonders sinnvollen Ansatz betrachten die Autoren Pflanzenkohle, also Terra Preta. Schließlich müsse alles getan werden, um terrestrische Wasserkreisläufe zu stärken. In den Beiträgen zu den einzelnen Techniken finden sich auch vielversprechende bereits existierende Umsetzungsansätze, neue Gremien, Pakts, Forschungsprojekte und Verfahren, von denen die breite Bevölkerung sonst eher wenig mitbekommen dürfte.

Der dritte Teil des Buchs, er ist vergleichsweise kurz, befasst sich damit, wie man endlich zur Umsetzung solcher Ideen kommen kann. Es weist auf die Verantwortung der Zivilbevölkerung hin: Politik sei im demokratischen System nur dann handlungsfähig, wenn die Bürgerschaft Handeln einfordert, und dazu müsse man ihr die Dimensionen und Konsequenzen der Bedrohungen durch den Klimawandel nahebringen. Was der Herausgeber ja schon versucht hat, aber an den Aktualitäten bislang scheiterte. Und das, obwohl das Geld für eine breite Kampagne inzwischen vorhanden ist. Nun ist aber die Aufmerksamkeit seiner Partner weg. Wegen Ukraine, siehe oben. Dafür wird der Klimawandel schlimmer, und vielleicht sorgt ja das für den nötigen Aufwach-Moment.

Schließlich liefert das Buch Finanzierungsvorschläge. Denn zahlen wird viel von der notwendigen biobasierten Transformation aus historischer Verantwortung, aber auch einfach, weil in Afrika und vielen tropischen Ländern in Asien nicht genügend Geld ist, der Westen respektive die Industrieländer. Und hier diejenigen, die in den letzten Jahrzehnten Gelegenheit hatten, Vermögen aufzuhäufen, nicht Otto Normalverbraucher. Zu den Aufbringungsmethoden gehören insbesondere eine kleine Finanztransaktionssteuer, die es inzwischen in einigen Ländern bereits gibt, und eine modifizierte Erbschaftssteuer zusammen mit einem zu gründenden Staatsfond. Nach neuem Erbrecht soll das steuerfreie Erbe von Privatpersonen dritten Grades (z.B. Neffen/Nichten/…) höher werden, damit man solchen Personen ohne Steuerabzug beispielsweise ein privates Häuschen oder eine Wohnung vermachen kann. Dafür wird Betriebsvermögen in die Erbbesteuerung einbezogen, aber in Form einer stillen Beteiligung des Staatsfonds an vererbten Betrieben und deren Gewinn von 30 Prozent. Die wirtschaftliche Handlungsfähigkeit der Eigner bleibt in diesem Modell voll erhalten, die des Staates steigt. Denn der kann von dem Geld endlich die nötigen Klimaschutzmaßnahmen woanders finanzieren, woran ja vielversprechende Ansätze bislang gescheitert sind. Außerdem können die Erben mit der Zeit ihren Anteil zurückkaufen.

Argumentativ weisen die Autoren darauf hin, dass das in den Firmen steckende Geld ja nicht von den Erben oder deren Erblassern allein erwirtschaftet wurde, sondern von ihren Mitarbeitern, und dass insofern de Allgemeinheit auch einen Anteil am vererbten Vermögen fordern könne, der über die bezahlten Steuern hinausgeht. Hier werden viele aufschreien, aber letztlich ist dies ein interessanter neuer Ausweg aus der Betriebsvermögens-Debatte. Wird unter 10 Millionen vererbt, gilt übrigens das alte Recht. Der Bäckermeister muss also nicht fürchten, dass der Staatsfonds demnächst an seinen Brötchen mitverdient.

Würde all dieses umgesetzt, hätten wir noch eine Chance, das 1,5-Grad-Ziel einzuhalten und damit unsere Zivilisation vor dem Schlimmsten zu bewahren. Und wirklich teuer wäre das auch nicht – die Rettung der Banken habe, so die Autoren, erheblich mehr gekostet.

Insofern macht das Buch Hoffnung und Angst zugleich. Hoffnung, weil noch viel möglich wäre, finge man nur endlich an. Angst, weil die Zeit unwiderruflich abläuft und oft doch immer wieder etwas anderes wichtiger ist als der Klimawandel.

Das zweite Buch beschäftigt sich mit dem Thema Mobilität, also dem Bereich, wo sich in Sachen Kohlendioxid-Einsparung bislang am wenigsten getan hat: Mobilität und Verkehr. Dabei sehen sie sich besonders die Städte an, in denen ja immer mehr Menschen leben. Und mobil sind.

Die AutorInnen (die sich übrigens um gendersensible Sprache bemühen und auch das Geschlecht bei ihren Verkehrsplanungen mitdenken) wissen, wovon sie reden: Stephan A. Jansen ist Stiftungsprofessor für Urbane Innovation an der Universität der Künste Berlin, lehrt außerdem an der Karlshochschule in Karlsruhe Management, Innovation und Finanzen und steht dort dem Center for Philantrophy and Civil Society vor. Martha Marisa Wanat ist geschäftsführende Gesellschafterin von BICICLI, Gesellschaft für Urbane Mobilität und von MOND (Mobility New Design), einer Mobilitätsberatung.

Gemeinsam analysieren sie die heutige verkehrliche Situation in den Städten, beleuchten die Potentiale bisheriger Lösungsvorschläge von E-Car über Scooter und Sharing-Modelle bis hin zur multimodalen Verkehrszentrale und machen ihrerseits Vorschläge.

Weil beide auch aus der kreativen Ecke kommen (Wanat ist auch Sängerin, Jansen lehrt an einer Kunstakademie) oder ihr zuzurechnen sind, klingen sowohl ihre Argumentationen als auch ihre Vorschläge erfrischend anders als der Einheitssprech auf den gängigen Verkehrskongressen.

Die beiden stellen einige Grundthesen des gegenwärtigen, technikdominierten Diskurses in Frage. Das E-Auto betrachten sie eher als „Motoren-Methadon“ denn als Lösungsmittel für städtische Verkehrsprobleme. Das ist beruhigend, denn bisher haben die E-Karossen aber auch gar nichts zur Kohlendioxideinsparung beigetragen, und wo sie geladen werden sollen, wenn sie sich so verbreiten würden, wie die Industrie und die Politik hoffen, steht bislang in den Sternen. Dasselbe gilt für Sharing-Modelle. Sie scheinen, so die Untersuchungsergebnisse, die das Autorenduo referiert, eher mehr Verkehr zu erzeugen als welchen einzusparen, jedenfalls, wenn sie nach heutigen Konzepten abgewickelt werden. Außerdem sind gerade die massenweise die Städte verunzierenden Scooter eher ein Ärgernis als ein Verkehrsmittel.

Die Lösung der AutorInnen, kurz gefasst: Alles an seinem Platz, und alles miteinander über Mobilitätszentralen verbunden, alle dafür nötigen Informationen per Digitaltechnik zugänglich. Das Konzept bedeutet unausweichlich eine gründliche Entthronung des automobilen Individualverkehrs. Denn der nimmt zu viel Platz weg, ohne dass dem eine entsprechende Beförderungsleistung gegenüberstünde. Statt dessen: In der Stadt oder Gemeinde Rückkehr zur Selbstbewegung per Fuß oder Rad und öffentlich, was einen gründlichen Ausbau des öffentlichen Verkehrs verlangt. Alles andere nur dann, wenn es sich nicht vermeiden lässt. Natürlich gilt das für Städte und ihre Peripherie, aber da lebt ja auch längst die Mehrzahl der Bevölkerung. Fürs Land schlagen die Autoren unter anderem Teleworking und mehr öffentlichen Verkehr, entsprechende Investitionen sowie maßvolle Nutzung von Autos etc. vor.

Das Gute ist, dass die AutorInnen ihre Thesen durch bereits real existierende und funktionierende Beispiele, die zeigen, dass eine Zurückdrängung des Autos keine Katastrophe, sondern die Tür zu mehr Lebensqualität für die gesamte Stadt ist. Ihre Skepsis gegenüber E-Autos, Sharing etc. begründen sie mit viel Datenmaterial, das sie in sorgfältigen Metastudien gewonnen haben. Insofern lassen sich ihre Argumente kaum vom Tisch wischen.

Wer zukunftsfähige Konzepte entdecken und das übliche Mobilitätsdenken einmal in teils amüsanter, teils etwas verzwickter Sprache auf den Kopf gestellt sehen möchte, dem sei dieses Buch empfohlen. Denn die Bewegung im Kopf geht der Selbstbewegung im Verkehr wahrscheinlich bei vielen voraus. Die Lektüre ist ein guter Anstoß dazu. Einziger Kritikpunkt: Die vielen S/W-Abbildungen sind teilweise so klein beschriftet, dass man deren interessante Inhalte nur mit der Lupe erkennen bzw. lesen kann. Hier hat der Verlag geschlampt, was schade ist.

Bibliographie:

Klaus Wiegandt, Forum für Verantworetung (Hrsg.): 3 Grad mehr. Ein Blick in die drohende Heißzeit und wie uns die Natur helfen kann, sie zu verhindern. Oekom-Verlag, München, 2. Auflage 2022. Broschiert, 347 Seiten, zahlreiche farbige Abbildungen, 25,00 Euro. ISBN 9-783962-383695.

Stephan A. Jansen, Martha Wanat: Bewegt Euch. Selber! Wie wir unsere Mobilität für gesunde und klimaneutrale Städte neu erfinden können. Hanser-Verlag München 2022. Gebunden, 330 Seiten, zahlreiche s/w-Abbildungen, 29,99 Euro, ISBN 978-3-446-46973-0

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