Lieber gemeinsam statt einsam

Warum wird über ein Buch, das sich mit menschlicher Vereinsamung als Zeitphänomen, Krankheit und Todesursache befasst, im Blog  „Andere Wirtschaft“ geschrieben? Nun, ganz einfach: Weil der ständig steigende Zeitdruck, die Anforderung stetiger Verfügbarkeit, ständig steigender Produktivität und Effektivität und auch die stetige Mobilitätsanforderung den Druck auf die Arbeitskräfte permanent erhöht. Im Verein mit digitalen Kommunikationsmitteln, die virtuelle an die Stelle physischer Gemeinsamkeit setzen, entsteht mehr Einsamkeit.

Insofern ergibt sich aus der Frage, wie wir die Einsamkeit als verbreitetes gesellschaftliches Phänomen wieder reduzieren, womöglich auch die Frage, ob wir weiter wirtschaftliches Wachstum und Gelderwerb in den Mittelpunkt unserer Bestrebungen setzen wollen. Ob und wie viel also diese beiden Ziele etwas zum wichtigsten Ziel der Politik, nämlich dem „größten Glück für die größte Zahl“ beitragen, oder ob man zumindest in den relativ reichen Gesellschaften des Westens nicht andere Ziele in den Mittelpunkt setzen muss.

Der Autor, Manfred Spitzner, ist kein Unbekannter. Er hat sich mit seinen breit diskutierten Büchern „Digitale Demenz“ und „Cyberkrank“ höchst außerordentlich kritisch mit den Folgen der Digitalisierung und insbesondere sozialer Medien auseinandergesetzt. Nun wählt er sich also das Thema Einsamkeit, die Spitzner nach der Auswertung Hunderter Studien und Forschungsberichte aus aller Welt als „Lebensrisiko Nummer 1“ betrachtet. Dieses Risiko ist, so Spitzner, am höchsten in Jugend und Alter.

Spitzner unterscheidet zwischen sozialer Isolation und Einsamkeit. Ersteres bedeutet, dass man real zu wenige Menschen sieht. Zweiteres bedeutet das Gefühl, sich einsam zu fühlen, selbst wenn möglicherweise viele Menschen da sind. Das Buch bezieht sich auf letzteres.

Spitzner berichtet über aktuelle wissenschaftliche Erkenntnisse zu den Gemeinsamkeiten zwischen physischem Schmerz und Einsamkeit, bringt die neuesten Forschungsergebnisse dazu, ob Einsamkeit ansteckend ist, ob und wie Einsamkeit Stress auslöst. Und er analysiert, ob Online-Medien zur Reduzierung von Einsamkeit beitragen (nein).

Sodann analysiert Spitzner, wie sich anhand epidemischer Daten und Datenanalysen die grassierende Einsamkeit in den Industriegesellschaften auf die Sterbestatistik auswirkt, mit anderen Worten: ob und inwieweit Einsamkeit tatsächlich töten kann. Kurze Antwort: Sie kann. Ein Kapitel befasst sich auch mit der Einsamkeit in Beziehungen und damit, ob der Stress einer schwierigen Partnerschaft durch Trennung zu heilen ist.

Zum Trost für das gesamte, teils doch recht düstere Forschungspanorama kommen am Ende des Buches ein paar Tipps, wie jeder versuchen kann, seine eigenen Einsamkeitsgefühle zu reduzieren. Die wirksamsten Rezepte sind die, derer sich die Menschheit schon seit ihrer Existenz bedient: Als Einstieg Therapie, aber da dies kaum ein Dauermodell sein dürfte, kommt weiteres hinzu: anderen helfen, geben – ja, auch das ist wissenschaftlich belegt – singen, tanzen und mit anderen gemeinsam glücklich sein, wie auch immer man das zustande bringt.

Ob man sich nun in dem, was Spitzner schreibt, wiederfindet oder nicht: Es ist außerordentlich lobenswert, dass ein qualifizierter Mediziner die allgegenwärtige Erscheinung Einsamkeit ernst nimmt und versucht, über ihre Folgen aufzuklären. Das nächste Einzelappartment mit seinem Insassen ist nämlich wahrscheinlich nicht weit – wenn man nicht gar selbst in einem wohnt. Und vielleicht ist es der erste Schritt zu weniger Einsamkeit, diese Klause entweder selbst öfter zugunsten sozialer Kontakte zu verlassen oder einfach einmal bei den möglicherweise einsamen Nachbarn anzuklopfen.

((Bibliographie)) Spitzner, Manfred: Einsamkeit. Die unerkannte Krankheit. Schmerzhaft. Ansteckend. Tödlich. Gebunden, 316 Seiten, mit einigen s/w-Grafiken und ausführlichem Literaturverzeichnis, Verlag Droemer, München, 2018. ISBN 978-3-426-27676-1, 19,99 Euro.