Warum überhöhen die allermeisten Wirtschaftsjournalisten das Wirtschaftswachstum zur vollkommen unhinterfragten, nahezu magischen Größe? Dieser Frage geht der Wirtschaftswoche-Redakteur Ferdinand Knauß in einer wissenschaftlichen Untersuchung nach. Er untersucht, wann der Begriff „Wirtschaftswachstum“ in den Medien auftauchte und wie er im Lauf der Zeit verwendet wurde. Dabei kommt er zu dem Schluss, dass das Wirtschaftswachstum als nahezu unhinterfragbares Paradigma eine recht kurze Geschichte hat. Denn noch in der Vossischen Zeitung, die von 1918 bis 1934 untersucht wurde, kam der Begriff nicht vor.
Anschließend untersucht Knauß das Auftauchen und die Verwendung des Begriffs Wirtschaftswachstum in Zeit, FAZ und Spiegel ab den 50ern. Erst dann nämlich, als die während des Krieges aus Gründen der Kriegswirtschaft entwickelte detaillierte, produktionsorientierte Wirtschaftsstatistik der USA in die Friedenszeiten übernommen wurde und wegen ihrer Greifbarkeit den Siegeszug um die Welt antrat, zog das Wachstum, ausgedrückt als Bruttoinlandsprodukt auch als Schlagwort in die Presse ein und bestimmte in den kommenden Jahrzehnten den gesamten Diskurs von Wirtschaftswissenschaften und Gesellschaft. Daran konnten auch Ereignisse wie die Ölkrise in den 70ern nichts ändern.
Krauß entlarvt das Wirtschaftswachstum als gern wiederholtes Narrativ, also als eine Art Erzählung, die man deshalb unhinterfragt verwendet, weil sie flüssig von den Lippen kommt, sich an Gewohntes hält und hilft, neue Ereignisse in einen Verständnisrahmen einzuordnen, der den bestehenden Verhältnissen nicht widerspricht. Drei solche Narrrative führt Knauß auf: das vom nahezu unbegrenzten Wachstum der Grenzen durch Innovation, das vom Standort Deutschland als Ersatzvaterland und als jüngste Kreation das vom Einwanderer als Wachstumsretter.
Außerdem liefert Krauß drei Interviews mit ehemals leitenden Wirtschaftsjournalisten führender Tageszeitungen und Wirtschaftsmedien, die inzwischen pensioniert sind. Gemeinsames Element dieser Interviews ist die enge Interaktion zwischen Journalisten und Akteuren aus der Wirtschaft, die auf das Weltbild der Journalisten abgefärbt haben dürfte.
In einem abschließenden Teil fasst Knauß seine Befunde zusammen und stellt Forderungen an seine Kollegen: Das Wirtchaftswachstum habe tatsächlich dazu beigetragen, die kriegerischen Krisen des 20. Jahrhunderts zu bewältigen, insofern sei es kein Wunder, dass es, unterstützt, durch die griffige BIP-Statistik, einen Siegeszug durch Medien und gesellschaftlichen Diskurs antrat. Seit den 60ern diene das Festhalten an Wachstumsnarrativen aber eher dazu, von irritierenden, vom Wachstumsparadigma als Heilsbringer abweichende Realitätsbefunden abzulenken. Es hänge damit zusammen, dass der Wirtschaftsjournalismus „indexiert“, also vom wachstumsgeprägten Hauptdenkstrom vorgeprägt sei und Andersdenkende deshalb kaum je in wichtige Positionen kämen.
Folgerichtig verlangt Knauß, die Journalisten sollten die Gefolgschaft gegenüber der Ökonomie aufkündigen, den Wirtschaftsjournalismus durch soziologische, philosophische und andere geisteswissenschaftliche Überlegungen anreichern und damit „feuilletonistischer“ machen.
Kaum beleuchtet hat der Autor leider den Umstand, dass Zeitungen selbst gewinnorientierte Wirtschaftsunternehmen sind, wobei das Ziel ihrer Eigentümer in der Regel das Wachstum oder zumindest die stetige Profitabilität ihres Unternehmens ist. In diesem Umfeld kann ein Schreiber, der das Wachstum in Frage stellt, das gedeihliche schwarze Zahlen unter der jährlichen Bilanz garantieren soll, wohl kaum ernsthaft in Frage stellen, zumal Zeitungsunternehmen unter Tendenzschutz stehen, eine der Leitlinie des Mediums widersprechende Grundeinstellung also sogar zur Kündigung führen kann. Deswegen wird Wachstumskritik wohl noch lange eine Nischenexistenz in deutschen Redaktionen zumal der Presse führen. Denn sie ist, anders als Rundfunk und Fernsehen, essentiell auf Anzeigen angewiesen, die nun massiv ins Internet abwandern. Mehr Wachstumskritik in den Medien wird daran auch nichts ändern, obwohl sie wünschenswert wäre. Aber derlei findet ja längst anderswo statt, zum Beispiel in zahlreichen Blogs und Online-Medien wie https://anderewirtschaft.arianeruediger.de
Bibliographie: Ferdinand Knauß: Wachstum über Alles? Wie der Journalismus zum Sprachrohr der Ökonomen wurde. Oekom-Verlag 2016, broschiert, 191 Seiten, 24,95 Euro