Die Freiheit, die wir meinen

Bibliographie: Raoul Martinez: Die falsche und die wahre Freiheit. Wofür es sich jetzt zu kämpfen lohnt. Gebunden, 591 Seiten, ausführliches Anmerkungs- und Stichwortverzeichnis. Hoffman & Campe, Hamburg, 2017. 34 Euro, ISBN 978-3-455-50307-4, E-Book 26,99

Was ist Freiheit? Wie wird der Begriff heute in der Regel benutzt? Und was könnte oder sollte er bedeuten, wenn man ihn ernst nähme? Diese Frage erörtert der mehrfach preisgekrönte Journalist Raoul Martinez in seinem Buch „Die falsche und die wahre Freiheit.“

Dankenswerterweise legt Martinez gleich am Anfang seines Buches die wissenschaftlich-philosophischen Grundlagen seines Werkes offen. Sie machen klar, warum er in den übrigen Kapiteln zu seinen Schlüssen kommt. Das Buch ist in drei große Teile gegliedert, deren erster „Das Glücksspiel der Geburt“ heißt. Hier geht es in drei Kapiteln um Glück, Strafe und Belohnung. Fazit: Vieles, was wir heute als unser persönliches Verdienst auffassen, ist laut Martinez in Wirklichkeit Glück und insofern unverdient. Unser Verhalten werde, so Martinez, zur Gänze determiniert entweder durch unsere Gene und deren Zusammenwirken oder durch das, was wir im Lauf eines Lebens gelernt haben (also in erster Linie: zu Hause oder in der Schule). Daher sei die persönliche Verantwortung für Verhalten, wie sie z.B. die Justiz oder die Glaubensrichtungen postulieren, eine Fiktion, die dazu diene, gesellschaftliche Bedingtheiten und Zusammenhänge zu verschleiern und dem Einzelnen die „Schuld“ an Dingen zuzuschreiben, für die er oder sie letztlich nicht verantwortlich seien.  Strafen nutzten deswegen auch wenig bis nichts. Das aktuelle Strafrechtssystem der meisten Staaten sei daher aus Präventionsgesichtspunkten sinnlos und helfe nicht, Kriminalität zu senken. Und weiter: Materieller Lohn (im Arbeitsleben oder für ehrenamtliche Aktivitäten) könne die Motivation zu weiterem positivem Handeln blockieren, statt sie zu fördern. Gleichzeitig sei jeder Mensch intrinsisch motiviert, sich sinnvoll zu betätigen. Diese Thesen belegt der Autor reichlich durch Daten und Nachweise aus der aktuellen Wissenschaft und Forschung auf verschiedenen Gebieten, unter anderem aus Genetik, Medizin, Psychologie, Ökonomie und Sozialwissenschaften. Diese Denkgrundlagen widersprechen vielen gern gehegten Prämissen, zum Beispiel der Vorstellung, jeder sei für seine Handlungen voll verantwortlich, der vorgestellten Präventionswirkung von Gefängnisstrafen oder der skeptischen Annahme, ein garantiertes Grundeinkommen werde viele Menschen in gemeinschaftsschädliche Faulpelze verwandeln.

Auf diesen Grundlagen aufbauend, analysiert der Autor unser derzeitiges Gesellschaftssystem, das er als von Grund auf vermachtet begreift. Teil 2 („Die Konsensillusion“) beschreibt, wie der Freiheitsbegriff in gesellschaftlichen Subsystemen vereinnahmt wird, die letztlich dazu dienen, die Inhaber von Macht und Reichtum zu schützen und den großen Rest von Macht und Reichtum fernzuhalten. Hier geht es in drei Kapiteln um Herrschaft, Wahlen, Märkte und Medien.

Teil 3 („Der Kampf um unsere Freiheit“) schließlich beschäftigt sich mit Auswegen aus dieser Situation. Die Kapitel hier: Kreativität, Wissen, Macht, Überleben, Empathie. Kreativität müsse jeder einzelne an seinen immateriellen Werten ausrichten, um ihren Missbrauch zu vermeiden. Dazu müsse man seine eigenen Werte und ihre Entstehung hinterfragen, um sie am Ende möglicherweise neu zu definieren. Regelverletzungen zugunsten solcher Werte seien manchmal sinnvoll und unvermeidbar. Als Beispiel wählt der Autor hier die Durchsetzung schwarzer Rechte in den USA, die zunächst die Verletzung bestehender Segregationsgesetze erforderte. Wissen müsse allgemein zugänglich und an der Wahrheit ausgerichtet sein, statt die opportunistischen Auffassungen beliebiger Interessenträger zu transportieren. Beispielhaft belegt der Autor dies an den finanziell unterfütterten jahrzehntelangen Verdummungskampagnen der Tabakindustrie. Ein schönes Beispiel hierfür ist aber auch die „Abgaskrise“ der deutschen Automobilindustrie. Sie besteht ihrem Wesen nach in einem jahrelangen, in Konsens begangenen Betrug der Konsumenten weltweit durch ein Kartell von Autoproduktion, Kontrollbehörden und höchsten politischen Institutionen im Dienst großer Firmen. Als Begründung müssen Arbeitsplätze herhalten. Zum Wissen gehört bei Martinez übrigens auch die begründbare Utopie als Wegweiser in die Zukunft.

Macht entstamme in den heutigen Systemen nur scheinbar demokratischer Legitimation. Viel häufiger sei sie an den Besitz von Geld gekoppelt. Das bedeute, dass weniger reiche Akteure weniger Freiheit genießen. Großstrukturen wie Handelsabkommen, die EU und andere erschwerten es alternativen Akteuren, über Mechanismen wie demokratische Wahlen an die Macht zu kommen und die Spielregeln zu beeinflussen. Als Beispiel bringt Martinez hier Griechenland, wo die Regierung grundsätzlich weniger Macht besitzt als die großen internationalen Finanzierungsinstitutionen, die derzeit die griechischen Schulden decken. Im  Kapitel „Überleben“ geht es darum, wie interessierte Lobbyisten ihre materiellen und Machtinteressen sogar über den Erhalt der Lebensgrundlagen stellen. Dabei nutzten sie es für ihre Zwecke aus, dass die negativen Folgen des Klimawandels zuerst in vergleichsweise sehr machtlosen Regionen spürbar werden, etwa den Inselstaaten. Außerdem belegt Martinez am Beispiel der Klimakrise, wie einige wenige reiche und machtvolle Akteure immer wieder schaffen, die Realität des Klimawandels mit Fake-Daten und Verwirrinformationen wegzudefinieren. Als Auswege sieht Martinez  vor allem die dem Menschen eingeborene Fähigkeit zur Einfühlung in andere Lebewesen, gekoppelt mit einer dadurch erleichterten Solidarität mit den Schwachen und Machtlosen. Es tröstet und macht Hoffnung, dass der Autor diese beiden Komponenten  zum Kern des menschlichen Wesens rechnet.

Martinez ist trotz seiner sehr kritischen Thesen keinesfalls ein Träumer, sondern er belegt alle seine Thesen wissenschaftlich und zeitgeschichtlich mit zahlreichen Originalquellen. Deren Fundstellen lassen sich anhand eines ausführlichen Literaturverzeichnisses, das auch viele Onlinetexte nennt, durchgehend nachvollziehen. Damit reiht er sich ein in die Liga aktueller Fundamentalkritiker am herrschenden wirtschaftlichen und politischen System wie Pikety, der auch mehrmals zitiert wird, oder die ökologischen Wachstumskritiker. Die Stärke des Buches liegt in der Zusammenschau sehr unterschiedlicher Bereiche unter dem Blickwinkel einer freiheitlichen Gesellschaftsgestaltung. Seine ungewöhnliche Reflexion zum Freiheitsbegriff macht Mut, einmal genauer über seine inflationäre Verwendung in allen möglichen Zusammenhängen nachzudenken und darüber, was Freiheit wirklich bedeuten könnte.

Wirtschaftskritik pauschal und fundamental

Bibliographie: Wolfgang Schmidbauer: Raubbau an der Seele. Psychogramm einer überforderten Gesellschaft. Gebunden, 247 Seiten, ausführliches Stichwortverzeichnis. Oekom-Verlag München 2017, 22 Euro, ISBN 9-783960-060093.

Schon seit mehr als vierzig Jahren befasst sich der Psychologe Wolfgang Schmidbauer mit dem Einfluss der Konsumgesellschaft auf die Menschen. 1972 erschien „Homo Consumens. Der Kult des Überflusses.“ (nähere Info dazu z.B. hier ). In seiner aktuellen Publikation nimmt Schmidbauer diesen Faden wieder auf und passt seine Thesen der Gegenwart an. Wir leben in einer Welt, in der allgegenwärtige Vernetzung, soziale Medien, Online-Datingdienste und Werbung allenthalben das Bild prägen. Die Befriedigung physischer Bedürfnisse, mit der Menschen einmal quasi unaufhörlich beschäftigt waren, spielt für die meisten Bewohner industrialisierter Länder keine Rolle mehr. An ihre Stelle trat spätestens in den 50ern die Bedürfniserzeugung durch Werbung und der erwünschte Konsum möglichst vieler Güter oder Dienstleistungen, um das Wirtschaftswachstum zu steigern. Schmidbauer sieht den wichtigsten Motor des Überkonsums im Vergleichen mit anderen und dem Erwerb von Gütern aus Statusgründen, letzten Endes angeheizt durch die inhärenten Wachstumszwänge des marktwirtschaftlichen Systems. Denn langfristig stabil bleibt die kapitalistische Ökonomie nach heutiger Kenntnis nur dann sicher, wenn sie wächst, und auch aus Krisen hilft nur weiteres Wachstum, das einhergeht mit Konsum. Schmidbauer geht davon aus, dass sich dieser nicht, wie gern behauptet, vom Verbrauch physischer Ressourcen abkoppeln lässt und so letztlich zur Zerstörung der Ressourcenbasis führt. Die allgegenwärtigen Echtzeit- und sozialen Medien sowie die Werbeberieselung trügen dazu bei, dass der Vergleichsmotor, der den Konsum laut Schmidbauer antreibe, immer schneller läuft.

Die psychischen Auswirkungen der künstlich erzeugten und aufrecht erhaltenen Erwartung, es müsse alles jederzeit für jeden in beliebiger Menge und an jedem Ort verfügbar sein, liegen laut Schmidbauer in Versagensängsten und Depressionen. Denn natürlich ist in der Realität nicht immer alles „da“ – für viele einfach, weil das Geld fehlt. Und andererseits verliert das gerade Konsumierte ruck-zuck seinen Reiz, und es muss von Neuem konsumiert und zuvor verdient werden, auch das in immer schnellerem Rhythmus, der immer mehr Menschen überfordere.

Um die deswegen allgegenwärtigen Ängste und Depressionen der nimmersatten Sofortkonsumierer zu verdrängen, benutze man, so Schmidbauer, vor allem Antidepressiva, die aber das gefühlsmäßige Gleichgewicht durch einen chemischen Eingriff ins Gehirn dauerhaft veränderten und gewissermaßen die Kritikbereitschaft und -fähigkeit an den herrschenden Verhältnissen einschläferten. Mechanistische neurobiologische Modelle ersetzen die tiefgehende psychologische Analyse. Dabei würde man die Sinnhaftigkeit und den Wahrheitsgehalt schon wieder stark relativieren oder sie seien gar widerlegt. Tiefgehende und sinnhafte Kommunikation zwischen Menschen werde durch den allgegenwärtigen Bildschirm – bis hin zur medienunterstützten Psychotherapie – eher erschwert. Das liege aber im Dienste des ökonomischen Gesamtsystems, dem ja vor allem an relativ besinnungslosen Dauerkonsumenten gelegen ist.

Sinnvoll sei es stattdessen, die Ursachen des Missbefindens zu analysieren und anschließend konsequenterweise das Interesse der Betroffenen weg von der materiellen Welt und dem Konsum hin zu ihren Mitmenschen und sinnvollen Beschäftigungen zu lenken.

Mir erscheint die Kritik Schmidbauers in der Substanz durchaus berechtigt, teilweise allerdings auch überzogen. Insbesondere kenne ich genügend Menschen, die alles andere als oberflächlich sind, sich hauptsächlich mit anderen Menschen auseinandersetzen, sehr bewusst mit sich und der Welt umgehen und trotzdem an irgendeinem Punkt auf Antidepressiva zurückgegriffen und von ihnen profitiert haben. Wer aber gern eine gehörige Dosis Fundamentalkritik als Anregung zum Nachdenken möchte, ist hier gut bedient.