Bayern wird immer reicher – regionales Wohlergehen nicht unbedingt

Wohlfahrt und Wirtschaftswachstum in Bayern befinden in Bayern nicht im Einklang (siehe hier). Von 2000 bis 2007 klafften beide Werte jährlich weiter auseinander, seitdem hat sich die Lücke nicht signifikant geschlossen. Das zeigt, dass reine BIP-Berechnungen nur sehr partiell darüber Auskunft geben, wie gut es einem Land oder einer Region tatsächlich geht. Alternative Wirtschaftswissenschaftler und die Grünen fordern schon lange, dass das BIP nur noch als ein Gradmesser des Wohlergehens verwendet und durch andere, umfassendere Indikatoren ergänzt wird. Das Berechnungsmodell des regionalen Wohlfahrtindex und die Berechnung aller Teilwerte, die in den Index einfließen, finden sich hier.

Regenwald: Naturparadies, Lebensraum oder Sonderwirtschaftszone?

Im oberbayerischen Städtchen Rosenheim findet derzeit im bundesweit bekannten Ausstellungszentrum Lokschuppen eine sehr bemerkenswerte Ausstellung zum Thema Regenwald statt (noch bis 29.11.). Es folgt nun die lange Liste derer, die an der Konzeption und Durchführung beteiligt waren: Die Veranstaltungs- und Kongress GmbH Rosenheim, ein Unternehmen der gleichnamigen Stadt, die Staatlichen naturwissenschaftlichen Bayerns und das Museum fünf Kontinente. Zahlreiche Sponsoren haben das Projekt unterstützt, aber die lange Liste möchte ich aber den Leserinnen gern ersparen.
Die Ausstellung entwirft ein Rundum-Panorama des Themas Regenwald, und schon allein das ist ungewöhnlich. Die Schau beginnt mit dem Tier- und Pflanzenlebensraum Regenwald, seinen besonderen klimatischen, geografischen und biologischen Gegebenheiten. Anschließend geht es weiter zu den sich aus diesen Gegebenheiten ergebenden Lebensweisen indigener Völker in unterschiedlichen Weltregionen, in denen noch Regenwald existiert. Danach werden die koloniale Entdeckungs- und Eroberungsgeschichte des Regenwaldes, die Impulse, die er dem europäischen Kulturschaffen gegeben hat und noch gibt und seine Ausbeutung als Rohstoff-Reservoir der Industriegesellschaften dargestellt. Den Abschluss bilden einige heutige Ansätze, den indigenen Völkern besser gerecht zu werden und den Regenwald als Lebensraum zu schützen.
Viele multimediale Elemente sorgen dafür, das die Rezeptionsweisen jüngerer Menschen angesprochen werden und keine Langeweile aufkommt. An vielen Stellen kann man live beobachten, zum Beispiel den mit lebenden Ameisen bestückten Nachbau eines unterirdischen Nests von Blattschneiderameisen, auswählen, etwa welches Lebewesen man genauer kennenlernen möchte, selbst etwas ausprobieren, zum Beispiel einen Trommelrhythmus nachspielen oder flechten. Ein dominantes Element sind kurze Videos, die immer wieder eingestreut werden, um Dinge zu zeigen, die am stehenden Demonstrationsobjekt nun einmal schwer lebendig werden. So kann man das schmerzhafte Initiationsritual eines indigenen Stammes miterleben oder wie ein anderer Stamm ein Männerhaus baut, man kann per Boot durch den Regenwald gleiten, das Schrumpfen des Regenwalds über die Jahrtausende miterleben und Ausschnitte aus der Oper Fitzcerraldo sehen, in der der Regenwald eine Hauptrolle spielt.
Manchmal gerät man etwas durcheinander, weil die Ausstellung sich nicht einer speziellen Regenwaldregion, etwa dem Amazonasgebiet, widmet, sondern allen noch existierenden Regenwäldern der Erde. Allerdings wird so auch besonders deutlich, wie bedroht die Regenwälder weltweit sind, weshalb sie sich ähneln und wie dringend es ist, etwas zu ihrer Rettung zu unternehmen – unabhängig von ihrem Standort.
Bei den Lösungsansätzen hätte ich mir noch weit mehr gewünscht, es fehlten viele Initiativen, die ich an dieser Stelle erwartet hätte. Immerhin konnte man am Ende selbst Ideen für eigenes Verhalten oder Aktionen entwickeln und aufschreiben. Das ist zwar nett, darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass wohl massive Änderungen des Lebensstils in den industrialisierten und sich industrialisierenden Ländern, insbesondere beim Verbrauch fossiler Rohstoffe und von Holz, nötig sein werden, um den Regenwald zu erhalten. Mit Einkaufen im Bioladen allein ist es jedenfalls nicht getan. Trotzdem ist die Ausstellung auf jeden Fall empfehlenswert.

Ausstellung Regenwald, Lokschuppen Rosenheim, noch bis 29.11.2015. Geöffnet Montag bis Freitag von 9 bis 18 Uhr, Samstag, Sonntag und Feiertag 10 bis 18 Uhr. Nähere Infos hier.

Autonomie – was ist das, wofür ist sie gut und was hat das alles mit Social Media zu tun?

Oft ist von Autonomie die Rede, aber was ist damit eigentlich gemeint? Und was bedeutet diese Fähigkeit in der digitalen Gesellschaft? Bieten uns Facebook, Google und Co. mehr Autonomie oder weniger? Mit Begrifflichkeit, Rolle und Entwicklung der Autonomie beschäftigt sich auf sehr grundlegende Weise das neue Buch des Soziologen Harald Welzer und des Philosophen Harald Pauen. Sie definieren – anhand mehrerer Beispiele von Personen aus sehr unterschiedlichen Bereichen – was Autonomie überhaupt ist. Nämlich die Fähigkeit, auch unter (Konformitäts)druck eigenständig, dh., unter Umständen abweichend von der Mehrheitsmeinung und auch unter Risiko, der eigenen Überzeugung entsprechend zu handeln.
Pauen und Welzer machen Schluss mit der Vorstellung, Autonomie sei vor allem eine Frage der Persönlichkeit. Anhand der gelegentlich sehr verstörenden Ergebnisse moderner sozialpsychologischer Forschung wie dem Milgram- und ähnlichen Experimenten belegen sie, dass Autonomie einzelner Personen oder Gruppen vor allem das Produkt förderlicher sozialer Umstände ist, keine Charakterfrage. Außerdem erörtern sie nicht nur die möglichen Vorteile autonomer Entscheidungen, sondern auch ihre möglichen Nachteile – schließlich kann schlimmstenfalls, wer sich dem Konsens entzieht, auch einmal schrecklich daneben liegen. Demokratieförderlich, so die Autoren, sei eine politische und gesellschaftliche Struktur, die Diskursprozesse fördere und dem einzelnen ausreichende Freiräume eröffne, um unsanktioniert sich eine eigenständige Meinung zu bilden und sich ihr entsprechend zu verhalten.
Hier kommen die sozialen Medien ins Spiel. Diese sehen die Autoren gerade in Hinblick auf die Autonomiefähigkeit der Menschen, sehr kritisch. Sie verengten, so argumentieren die beiden Autoren, durch den maschinell hergestellten unreflektierten Konsensprozess das Möglichkeitsspektrum (Suchalgorithmen finden idR das, was dem ähnelt, was man vorher schon gesucht hat, bestätigen also das Individuum in dessen vorgefertigten Meinungen). Die überall geforderte und häufig auf Plattformen wie Facebook auch bis zur Unterhosenmarke gepflegte Transparenz beseitige ehemals vorhandene geschützte, weil eben nicht allen bekannte Diskursräume, in denen sich abweichende Meinungen überhaupt erst bilden könnten. Soziale Medien wie Twitter taugten zwar dazu, kurzfristige Hypes zu erzeugen, nicht jedoch dazu, neue, langfristig tragfähige Strukturen im Sozialen aufzubauen. Dies zeige der sogenannte arabische Frühling, der zwar über soziale Medien forciert wurde, dann allerdings nicht in eine tragfähige neue soziale Ordnung mündete, weil, so die Autoren, dazu eben mehr nötig sei als das Verbreiten von 140-Zeichen-Meldungen, nämlich die gemeinsame, langfristige und durch enge persönliche Beziehungen unterfütterte Arbeit. Das massenweise Abschöpfen von Nutzerdaten aus „kostenlosen“ sozialen Netzwerken und Suchmaschinen sowie deren exzessive Auswertung und Nutzung zum Zweck von Marketing, Vertrieb und Produktdesign trage ebenfalls zur Verengung persönlicher Spielräume bei. Beispiele kommen heute etwa aus dem Versicherungs- oder Kreditwesen, wo Datenspuren schon heute ausreichen, um die Konditionen gravierend zu beeinflussen, zu denen ein Individuum abschließen kann.
Dass Pauen und Welzer die schöne neue Welt der kostenlosen Internet-Dienste als nicht förderlich fürs gesellschaftliche Miteinander erachten, macht besonders das letzte Kapitel deutlich. Es umfasst zehn Ratschläge zur Bewahrung der persönlichen Autonomie , aus denen hier einige Sätze zitiert werden sollen: „Verkaufen Sie niemals persönliche Souveränität für monetäre Vorteile. Üben Sie digitale Askese, wo immer es geht. Soziale Netzwerke… sind Produktionsstätten von informationeller Macht über Sie. Glauben Sie niemals, dass der annoncierte Vorteil einer technischen Innovation für Sie von Vorteil ist.“
Technoskeptiker findet hier wirksame Argumente gegen das allgegenwärtige Gerede über die unvermeidlichen und unabwendbaren Segnungen des Big Data-, Industrie 4.0- und Mobilzeitalters. Und wer optimistischer hinsichtlich des gesellschaftlichen Nutzens digitaler Technologien ist (zum Beispiel optimistisch genug, um irgendwie auf die Rezension dieses Buches auf meinem Blog gestoßen zu sein), kann testen, ob und welche der eigenen Überzeugungen auch einem kräftigen Gegen-den-Strich-Bürsten standhalten.
Bibliographie: Michael Pauen, Harald Welzer: Autonomie. Eine Verteidigung. S. Fischer Verlag, Frankfurt, 2015. Gebunden, 327 Seiten, Lesebändchen, Literatur- und Stichwortverzeichnis. ISBN978-3-10-002250-9, 19,99 Euro